Libanon: Anfällig für äußere Einflussnahme

Die im Libanon lebenden kurdischen Aktivistinnen Bûşra Elî und Henan Osman bewerten im ANF-Gespräch die Situation nach der verheerenden Explosion in Beirut.

Für den Libanon endete mit dem ersten Weltkrieg die osmanische Besatzung. Vor 100 Jahren übertrug der Völkerbund Frankreich das Mandat über den „Großen Libanon" - den Vorgänger der 1943 gegründeten Libanesischen Republik. Zwischen 1975 bis 1990 herrschte ein blutiger Bürgerkrieg in dem von Schiiten, Sunniten und christlichen Maroniten besiedelten Land. 150.000 Menschen kamen dabei ums Leben, Hunderttausende weitere wurden verletzt. Das Regierungsmodell des Libanon sieht eine ethnisch-konfessionelle Aufteilung der Machtpositionen vor. Seit Beendigung des Bürgerkriegs ist das Land der Schauplatz regionaler und internationaler Machtkämpfe.

Am 4. August ist im Hafen von Beirut ein Lager mit 2750 Tonnen Ammoniumnitrat explodiert. Bisher wird von 154 Toten ausgegangen. Über 5000 Menschen wurden verletzt, es wird weiterhin nach Verschütteten gesucht. Ungefähr 300.000 Personen sind obdachlos geworden. Die ohnehin zerbrechliche politische Situation im Libanon ist dadurch weiter ins Wanken geraten.

Internationale Versuche der Einflussnahme

Regionale und internationale Kräfte betrachten die verheerende Explosion als Gelegenheit, ihre Macht im Libanon auszubauen und die Konkurrenz zu schwächen. Aus der ganzen Welt kommen Angebote für wirtschaftliche Hilfen und den Wiederaufbau. Sogar eine erneute Installation der französischen Mandatsmacht wird in Erwägung gezogen.

Während die Golf-Staaten und der Westblock über wirtschaftliche Hilfe den Einfluss des Iran und der Hisbollah im Libanon brechen wollen, versuchen sich der Iran, die Hisbollah und Syrien als Krisenmanager. Russland und China geht es im Libanon um Ansehen.

Die im Libanon lebende kurdische Aktivistin Bûşra Elî und die Vorsitzende des 2014 in Beirut gegründeten Kulturvereins Newroz, Henan Osman, haben sich gegenüber ANF zu den möglichen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Explosion in Beirut geäußert.

Beginn einer neuen Zeit

Für Bûşra Elî ist es angesichts der aktuellen Situation nicht mehr besonders wichtig, ob die Explosion durch Fahrlässigkeit, Sabotage, einen Angriff oder einen anderen Faktor ausgelöst worden ist. Henan Osman sagt: „Die Detonation ist der Beginn einer neuen Zeit. Sie wird für viele Dinge einen Wendepunkt bedeuten.“

Auf die Frage nach ihrer Einschätzung des Krisenmanagements nach der Explosion antwortet Bûşra Elî, dass das Ammoniumnitrat seit sechs Jahren im Hafen gelagert wurde und die drohende Gefahr allen politischen Seiten bekannt war: „Es geht hier um eine weitflächig zerstörte Stadt mit Hunderten Toten und Vermissten, Tausenden Verletzten und Hunderttausenden obdachlos gewordenen Menschen. Anstatt darüber nachzudenken, spekuliert die libanesische Politik darüber, wie aus der Katastrophe Profit geschlagen werden und wer sie gegen wen benutzen kann.“

Henan Osman sagt: „Die Explosion eine verheerende Zerstörung hervorgerufen. Es sind nicht nur Gebäude zerstört worden, sondern auch viele Illusionen. Erstgradig verantwortlich ist dafür die politische Machtelite des Libanon. Auch der Handel, die Politik und die Gesellschaft sind bei der Explosion kaputt gegangen.“

Die Politik des Libanon werde vom Iran, Saudi-Arabien und einigen westlichen Ländern beherrscht, fügt Bûşra Elî hinzu: „Der Libanon steht unter regionaler Kolonialherrschaft, aber gleichzeitig auch unter internationaler Herrschaft.“ Das müsse bei einer Bewertung der aus der Explosion hervorgehenden Ergebnisse und einer Einschätzung der möglichen Entwicklungen berücksichtigt werden.

Tor zum Mittelmeer für den schiitischen Halbmond

Henan Osman führt aus, dass alle Fraktionen der politischen Elite im Libanon von einer anderen Macht dominiert werden: „Der Libanon ist das Tor zum Mittelmeer für den schiitischen Halbmond. Gleichzeitig ist der Libanon ein Land, in dem Saudi-Arabien großen Einfluss auf die Sunniten hat und die Christen sich von Frankreich abhängig gemacht haben.“ Die Explosion werde sich auch auf die Politik auswirken.

Einige Länder würden davon ausgehen, dass ihnen die Explosion die Gelegenheit biete „die Fingernägel des Iran im Libanon zu stutzen“, meint Bûşra Elî. Der türkische Staat hingegen betrachte den Libanon als osmanisches Erbe und die Explosion als Möglichkeit, den eigenen Einfluss zu erhöhen.

Die Aktivistin sagt, dass sich „die Türen für eine neue Zeit geöffnet“ haben. Sie ist der Meinung, dass die politische Elite in dem seit langer Zeit von einer wirtschaftlichen und politischen Krise gebeutelten Land die Last nicht mehr lange tragen kann. Henan Osman fügt hinzu: „Im Moment wiegt der Umgang der politischen Macht mit der Explosion schwerer als die Katastrophe selbst. Es wird zu gesellschaftlichen Folgeexplosionen kommen. Es sind gleichzeitig die Korruption, die Gleichgültigkeit und der moralische Verfall der herrschenden Elite explodiert.“

Die Bedeutung des Hafens

Der Hafen befinde sich in der Hand der Hisbollah, das sei der Regierung und den anderen Parteien bekannt, erklärt Bûşra Elî: „Daher ist es nicht möglich, nur eine Seite zu beschuldigen und die anderen freizusprechen. Der Hafen in Beirut war in zweierlei Hinsicht wichtig. Er hatte sowohl eine wirtschaftliche als auch eine politische Bedeutung. Wer den Hafen in der Hand hat, hatte auch die politische und wirtschaftliche Macht in der Hand.“

Henan Osman weist darauf hin, dass das politische System im Libanon auf einer Machtaufteilung basiert: „Nach dem Ende des Bürgerkriegs hat die politische Elite das Land geografisch, politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich aufgeteilt. Es ist ein auf dieser Aufteilung basierendes Regierungssystem etabliert worden und die Explosion ist eine Folge davon.“

Anfällig für äußere Interventionen

Der Libanon ist nach Meinung von Bûşra Elî durch die Explosion anfällig für jede denkbare Form äußerer Interventionen geworden: „Die Türkei sucht nach Interventionsmöglichkeiten, Russland will seine Position stärken. Die USA und die westlichen Länder verfolgen politische Interessen.“ Dem Libanon werde von allen Seiten Hilfe angeboten, aber die Unterstützung erfolge nicht ohne erwartete Gegenleistung.

„Es wird nicht mehr so wie früher sein. Die Regierung steht unter hohem Druck, damit der Einfluss des Iran und der Hisbollah gebrochen wird“, sagt Henan Osman. „Wenn das politische Embargo aufgehoben und Hilfe geleistet wird, dann nur unter bestimmten Bedingungen. Beispielsweise war Macron hier. Er will den französischen Einfluss verstärken. Das wollen auch Russland und China. Niemand leistet uneigennützige Hilfe.“

Bûşra Elî sieht eine sehr gefährliche und schmerzvolle Zeit für den Libanon kommen: „Wenn die konfessionellen, politischen und ethnischen Unterschiede nicht beseite gelassen werden, macht sich der Libanon für äußere Einflussnahme anfällig. Das wird sich auch auf Syrien und den gesamten Mittleren Osten auswirken. Wenn Syrien niest, wird der Libanon krank. Das gilt auch umgekehrt.“