Kurdische Familie in Konya beinahe gelyncht

Mit Brechstangen, Messern und Steinen bewaffnet überfällt ein rassistischer Mob in Konya eine kurdische Familie. Sechs Personen werden fast zu Tode geprügelt, für die türkische Justiz aber gilt bei Kurden der Grundsatz „Täterschutz vor Opferschutz“.

In der zentralanatolischen Provinz Konya wird eine kurdische Familie in ihrem Haus überfallen und von einem rassistischen Lynchmob fast zu Tode geprügelt. Rund sechzig Personen dringen über die Grundstücksmauer in den Garten ein, mindestens zehn von ihnen verschaffen sich bewaffnet mit Brecheisen, Steinen und Messern Zutritt in das Haus. Frauen und Männer, viele von ihnen miteinander verwandt, brüllen „Wir sind Nationalisten, euch wollen wir hier nicht haben“, während sie auf sechs der sieben Mitglieder der Familie einschlagen.

Es ist der Abend des „Arefe-Tages”, der Vortag des Ramadan-Festes, der in diesem Jahr auf den 12. Mai fiel. An diesem Tag besuchen die Muslime weltweit muslimische Grabfelder, um ihrer Toten zu gedenken. Ab dem nächsten Morgen wird drei Tage lang das Ende des Fastenmonats gefeiert. Es sind Verwandtenbesuche, Süßspeisen und Geschenke, die diese bedeutenden Tage normalerweise prägen. Die Familie Dedeoğulları jedoch verbringt diese Zeit im Krankenhaus. Yaşar Dedeoğulları, mit 66 Jahren dem ältesten von ihnen, muss eine lange Platzwunde am Kopf genäht werden. Sein Gesicht und Körper sind mit Hämatomen übersät, ein Auge ist stark angeschwollen. Ein Arm ist gebrochen, weil er sich schützend vor seinen Sohn Metin stellt, dabei zu Boden fällt und mit Brechstangen malträtiert wird.

Schädelbasisbruch, Schädel-Hirn-Trauma, Hirnblutungen

Bei Metin Dedeoğulları liegen ein Schädelbasisbruch, ein Schädel-Hirn-Trauma und Hirnblutungen vor. Er schwebt in Lebensgefahr und wird drei Tage lang auf der Intensivstation behandelt. Seinen Bruder Barış versucht einer der Angreifer, mit einem Messer zu erstechen, trifft aber nicht ganz. Denn Serap, eine der drei Schwestern, geht dazwischen. Auch ihr wird massiv auf den Kopf und andere Körperstellen eingeschlagen, der Unterarmknochen wird gebrochen. Ärzte vermuten, dass sie die eingesetzte Titanplatte bis an ihr Lebensende mit sich herumtragen muss.

Auf Sibel und Serpil Dedeoğulları gehen die Rassisten ebenfalls mit Brechstangen los, letzterer werden die Hälfte der Haare herausgerissen, als sie durch den Raum geschleudert wird. Sie ist es auch, die sich befreien und die Polizei verständigen kann. Nur Ipek Dedeoğulları wird verschont, denn als sie entdeckt wird, flüchten die Täter bereits.

Polizei macht Opfer verantwortlich

Als die Polizei eintrifft, so schildert es Barış Dedeoğulları im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA), wird die Familie dafür verantwortlich gemacht, dass sie von dem rassistischen Mob beinahe gelyncht wurde. „Es waren zunächst nur ein paar Leute, die plötzlich in unserem Garten standen. Dann wurden es auf einen Schlag immer mehr. Die Beamten meinten, wir hätten sie provoziert.” Seit dreißig Jahren leben die ursprünglich aus Qers (tr. Kars) stammenden Dedeoğullarıs in Konya, die letzten 24 Jahre in einem Viertel im Kreis Meram. Es ist die einzige kurdische Familie in dem Ort. Den Lebensunterhalt verdient man sich mit der Tierzucht.

Angreifer keine Unbekannten, sondern Nachbarn

Die Angreifer der Dedeoğullarıs sind keine Unbekannten. Es sind Nachbarn. „Wir werden nicht erst seit gestern wegen unserer kurdischen Herkunft Opfer von rassistischen und diskriminierenden Übergriffen durch die Familien Keleş und Çalık. Das geht schon seit fünfzehn Jahren so zu“, sagt Barış Dedeoğulları. „Sie sagen, dass sie Kurden hier nicht dulden. Einmal sind zehn oder mehr Leute auf unser Dach gestiegen und haben dort uriniert. Ein anderes Mal haben sie Knallkörper in unseren Garten geworfen. Aber unter dem Lynchmob waren auch Personen, die wir zum ersten Mal gesehen haben.“  

Polizeischutz für Täter

Rechtsanwalt Abdurrahman Karabulut erstattete am nächsten Tag bei der zuständigen Staatsanwaltschaft Anzeige wegen versuchten vorsätzlichen Mordes, vorsätzlicher schwerer Körperverletzung, Beleidigung, Nötigung und Bedrohung sowie Hausfriedensbruch in mehreren Fällen. Daraufhin wurden sechs Personen – Ali Keleş, Ayşe Keleş, Yahya Çalık, Lütfi Keleş, Şerife Çalık und Veli Keleş – verhaftet, gegen vier weitere (A.K., R.Ç., A.Ç. und İ.K.) ordnete ein Gericht Meldeauflagen an. Vor vier Wochen wurde dann bei einem Haftprüfungstermin entschieden, dass im Fall von Ayşe Keleş und Şerife Çalık die Meldeauflage als „präventive Maßnahme“ gleichermaßen vorerst ausreichend sei. Der zuständige Richter verteidigte seine Entscheidung der Freilassung der zwei Frauen als „Gewissensentscheidung”. Beide arbeiteten in der Landwirtschaft und jetzt sei eben „Haupterntezeit”. Vergangenen Freitag durften dann auch Yahya Çalık und Veli Keleş das E-Typ-Gefängnis Konya wieder verlassen. Alle zehn Angreifer erhalten zudem Polizeischutz.

„Geht es um Kurden, funktionieren Demokratie, Recht und Justiz in diesem Land nicht”

„Sie fahren jeden Tag vor unserem Haus auf und beleidigen uns”, sagt Barış Dedeoğulları. Es seien rassistische und sexistische Beschimpfungen. „Da sie unter Polizeischutz stehen, bedeutet es in der Praxis, dass sie freie Hand haben. Dabei sind wir die Opfer. Wir sind diejenigen, die fast zu Tode geprügelt wurden.” Es fehle eben an einem Verständnis von Gerechtigkeit für den kurdischen Teil der Bevölkerung, meint Dedeoğulları. „Geht es um Kurden, funktionieren Demokratie, Recht und Justiz in diesem Land nicht. ‚Gerechtigkeit für alle’ bleibt hier nur eine Phrase.”

Anwalt: Bedrohung durch die Täter allgegenwärtig

Rechtsanwalt Abdurrahman Karabulut hat derweil bei Gericht eine Klageerweiterung beantragt. Er fordert die Identifizierung aller Personen aus dem rassistischen Mob, die an dem Lynchversuch in irgendeiner Weise beteiligt waren. Zudem verlangt der Jurist die umgehende Rücknahme der Entscheidung für den Polizeischutz. Nicht das Leben der Angreifer sei in Gefahr, sondern das seiner Mandant:innen: „Sie sind es, denen polizeilicher Schutz gewährt werden muss, weil die Bedrohung durch die Täter allgegenwärtig ist.” Karabulut wartet schon länger auf eine Entscheidung des Gerichts. Der Antrag auf ein Näherungsverbot wurde ebenfalls noch nicht beschieden.