Dreieinhalb Jahre Folter durch protürkische Milizen

Dreieinhalb Jahre lang wurde A.H. aus Azaz in Gefängnissen in der türkischen Besatzungszone Nordsyriens von der Miliz „Jabhat al-Shamiya“ schwer gefoltert. Außerdem wurde er Zeuge von Folterungen kurdischer Gefangener durch inhaftierte IS-Dschihadisten.

Unter dem Schweigen und mit faktischer Billigung der internationalen Gemeinschaft wurde die völkerrechtswidrige Invasion Efrîns Anfang 2018 von der türkischen Armee und verbündeten islamistischen Milizen eingeleitet. Zwei Monate später war die Besatzung des nordsyrischen Kantons besiegelt – hunderte Menschen waren tot, hunderttausende vertrieben.

Seitdem ist Efrîn, einst sicherste Region in ganz Syrien, ein Lebensraum für Standards wie einst unter der Herrschaft des „Islamischen Staats“ (IS) in Raqqa. Die von der Türkei hochgerüsteten und dem Nato-Bündnis geduldeten Milizen haben den Kanton de facto in geografische Einflusszonen aufgeteilt. Zerstörungen, Übergriffe, Folter und unmenschliche und entwürdigende Behandlung der Bewohner*innen gehören längst zum Tagesgeschehen. Immer wieder beschrieben Betroffene die chaotischen Sicherheitsbedingungen, das allgemeine Fehlen von Rechtsstaatlichkeit und wiederholte Fälle von Entführungen, Folter, Erpressung und Morden – oft an Menschen kurdischen Ursprungs aus Efrîn. Darüber berichtete auch der UN-Menschenrechtsrat.

Nun sind erneut erschreckende Details über das Schicksal der unter türkisch-dschihadistischer Besatzung lebenden Menschen bekannt geworden. Ein ehemaliger Gefangener der pro-türkischen Miliz „Jabhat al-Shamiya“ - jener Gruppierung, die im Oktober 2019 die kurdische Politikerin Hevrîn Xelef exekutierte, berichtet im ANF-Interview über schwere Folter teilweise durch IS-Dschihadisten in Gefangenschaft der Besatzungstruppen.

A.H. ist Araber und stammt aus Azaz. Die Stadt liegt etwa 50 Kilometer nördlich von Aleppo und sieben Kilometer südlich der türkischen Grenze. Im August 2016 wurde Azaz de facto von der Türkei annektiert.

In Azaz wurde A.H. Ende 2016 wegen angeblicher „Beziehungen zur YPG“ verhaftet. Ein Jahr lang befand er sich dort in einem Gefängnis und wurde gefoltert, bis er am Neujahrstag 2018 gegen eine Zahlung von 4.000 US-Dollar Lösegeld freigelassen wurde. Danach nahm man ihn ein weiteres Mal gefangen. Diesmal landete A.H. in einem Gefängnis im Shimmari-Lager. Dort war nach der Besatzung Efrîns eine Olivenpressanlage in einen Kerker umfunktioniert worden. A.H. wurde erneut schwer gefoltert. Vor zwei Monaten kam er auf freien Fuß – diesmal gegen 10.000 US-Dollar Lösegeld.

„Es war einfach nur grausam“

A.H. erzählt über diesen Kerker: „In diesem Gefängnis gab es IS-Mitglieder, Araber und Kurden. Die IS-Leute wurden von den Wachen nicht angerührt. Man begründete es damit, dass es ja schließlich Muslime seien. Wir aber wurden gefoltert. Am schlimmsten traf es die Kurden, insbesondere jene, die mit der Selbstverwaltung in Verbindung standen. Die Foltermethoden waren äußerst brutal und widerwärtig. Diese Menschen bekamen so lange Stromstöße, bis sie in Ohnmacht fielen. Ihre Haut wurde mit Rasierklingen zerschnitten, bevor Salz mit Zitronensaft in die Wunden gerieben wurde. Man ließ uns hungern.“

„Die türkischen Militärs verschärften die Folter“

A.H. erwähnt, dass nach fünf Monaten türkische Militärs gekommen seien und auf ihre Anordnung hin die Folter weiter verschärft wurde. „Auch sie beschäftigten sich in keiner Weise mit den IS-Gefangen. Stattdessen befahlen sie: ‚Macht die Kurden richtig fertig, steigert die Folter.‘ A.H. erinnert sich, nach einer Weile von Angehörigen des türkischen Geheimdienstes MIT abgeholt worden zu sein. „Man brachte uns in das Gefängnis Hawar-Kilis. Es liegt auf türkischem Staatsgebiet. Dort wurden wir erneut verhört. Diejenigen, die mit der Selbstverwaltung in Verbindung standen, kehrten nicht mehr zurück.“

IS-Mitglieder als Folterer – Systematische Hinrichtungen

Noch viel erschreckender ist, dass im Gefängnis von Azaz kurdische Gefangene von IS-Dschihadisten gefoltert worden seien. A.H. gibt an, gesehen zu haben, wie der sogenannte Gefängnisdirektor die IS-Mitglieder zur Folter anstachelte. „Es gab da eine Person, sie hieß Hikmet. Zur Zeit der Demokratisch Autonomen Selbstverwaltung war er Richter. Der Gefängnisdirektor ließ ihn jeden Tag durch die IS-Mitglieder foltern. Sie haben die Kurden und insbesondere diejenigen, die Geld hatten, unter dem Vorwand von Verbindungen zur PKK verschleppt und Lösegeld erpresst. Es gab in Azaz eine große Grube. In diese Grube wurden die Getöteten und durch Folter ermordeten Menschen geworfen. Manchmal trugen sie Gefangenen, die keine Angehörigen hatten auf, ihre Sachen zu packen und nahmen sie mit. Eine Weile später erfuhren wir dann von ihrem Tod.“

Mitglied von protürkischer Miliz berichtet von Kriegsverbrechen

Bevor A.H. gegen Lösegeld freigelassen wurde, soll er in ein Gefängnis der Militärpolizei in Azaz gebracht worden sein. „Dort blieb ich etwa acht Monate. Dort waren unter anderem auch FSA-Mitglieder inhaftiert, die in Diebstahl und ähnliches verwickelt waren. Sie erzählten, wie sie als wohlhabend angesehene Kurden entführten und es eine ganze Reihe von Gefängnissen gäbe, in denen Opfer festgehalten werden. So lernte ich zum Beispiel einen FSA‘ler aus Mare kennen. Einmal erwähnte er mir gegenüber, wie sie einen Vater und zwei Söhne in Efrîn gefangen genommen und die Söhne zu Tode gefoltert hatten. Den Vater hätten sie nicht gefoltert, aber auch nicht wissen lassen, dass seine Kinder getötet wurden.“

IS-Mitglieder in den Reihen von Jabhat al-Shamiya

A.H. berichtet, dass vermeintlich gefangene IS-Dschihadisten immer wieder für die Miliz Jabhat al-Shamiya angeheuert werden: „Ein IS-Mitglied aus der Ukraine wurde nach einer Weile zu einem Leibwächter des Jabhat-al-Shamiya-Kommandanten Abu Ali Sidjo. Ich kenne zehn weitere IS-Mitglieder, die momentan für Abu Ali Sidjo arbeiten. Ich konnte sie sogar sehr gut kennenlernen. Sidjos Stellvertreter Scheich Hatim hatte einen afghanischen und einen pakistanischen IS-Angehörigen herausgeholt, damit sie in Efrîn kämpfen. Das haben mir IS‘ler, die später ins Gefängnis gebracht wurden, ebenfalls erzählt.“

Freilassung gegen 10.000 Dollar

A.H. befand sich insgesamt dreieinhalb Jahre in den Händen von Jabhat al-Shamiya und wurde von einem Gefängnis ins andere verlegt. „In dieser Zeit wurde ich unter schwerer Folter von FSA-Einheiten des türkischen Staats festgehalten. Wir haben im Prinzip die ganze Zeit gehungert. Ich war unschuldig. Sie hatten keinerlei Beweise. Das erste Mal ließen sie mich gegen 4.000 Dollar frei. Schließlich haben sie mich vor zwei Monaten gegen 10.000 Dollar freigelassen. Ich konnte in kürzester Zeit von dort fliehen und bin nach Şehba gegangen. Aber ich habe in Azaz immer noch Verwandte. Dort leben auch noch viele Zivilisten. Ich habe große Angst um sie.“