Başaran: Die HDP besteht, weil sie die Hoffnung ist

„Die Gesellschaft ist nicht ohne Lösungen und Alternativen. Sie muss kein kleineres Übel wählen. Es gibt einen dritten Weg und eine soziale Kraft, die sich jeden Tag aus der gesamten Gesellschaft neu erschafft; ihr Name ist HDP“, sagt Ayşe Acar Başaran.

Die Frauenbewegung steht im Fokus der Repression in der Türkei. Die kurdische Rechtsanwältin und Politikerin Ayşe Acar Başaran sieht in der Aggressivität des türkischen Regimes gegen freie Frauen ein Zeichen von Panik. Başaran, die als Abgeordnete der HDP im Parlament sitzt und Sprecherin des Frauenrates ihrer Partei ist, glaubt, dass die islamistisch-nationalistische Regierungskoalition aus AKP und MHP alle Hindernisse für die Institutionalisierung ihres eigenen Regimes beseitigen wolle und eines der wichtigsten Bollwerke, das zu verhindern, der Widerstand der Frauen sei. „Die Frauen verhindern, dass diese Koalition ihr angestrebtes Regime absichern kann. Darum werden die Selbstbestimmung, der Kampf und die Errungenschaften der Frauen ständig angegriffen. Vor allem von der Perspektive betrachtet, dass die Freiheit der Frau die unabdingbare Voraussetzung für Demokratie ist und die Frauenbefreiung tatsächlich auch soziale Freiheit und Transformation schafft, haben die Frauen den größten Kampf in diesem Prozess geführt. Es waren die Frauen, die den schwersten Angriffen ausgesetzt waren, aber auch den größten Widerstand leisteten und sich zur Wehr setzten. Wir haben in diesen Prozessen große Fortschritte erzielt“, äußerte Başaran im ANF-Interview.

Frauen werden ihre Errungenschaften nicht aufgeben

Vom Ko-Vorsitz zur paritätischen Vertretung, von der Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches bis zur Unterzeichnung der Istanbul-Konvention; Başaran wies auf die Errungenschaften von Dutzenden von Frauen hin, denen in den einzelnen Etappen ein hoher Preis für die Stärkung der Selbstbestimmung der Frauen und ihre Beteiligung an Politik, Gesellschaft und Wirtschaft abverlangt wurde. „Frauen wollen dieses Erbe nicht aufgeben, weil sie wissen, was sie zu verlieren haben. Nachdem uns die männlich dominierte Macht vor Tausenden von Jahren besiegt hat, gibt es wieder eine weibliche Kraft, die ihre Stärke wiederfindet und wieder aufbaut. Frauen haben nie aufgehört, Widerstand zu leisten. Nach der Ausrufung des Ausnahmezustands und der Einführung der Präsidialdekrete im Jahr 2016, kam der erste Widerstand gegen diese Regierung, die die Gesellschaft im Keim ersticken wollte, erneut von Frauen. Als sie am 8. März das entstandene Klima durchbrechen wollten, sah das AKP/MHP-Bündnis seine Chance in der Pandemie. Auf der anderen Seite gibt es einen Frauenkampf, der zu seinem Wort steht. Dies wird ohne Unterbrechung fortgesetzt. Natürlich passieren auch Fehler. Wir können nicht sagen, dass wir den Prozess ganz richtig gemanagt haben. Wir gehen selbstkritisch damit um, aber letztendlich ist es in dieser Zeit für Frauen sehr wichtig, zu bestehen. Unsere eigenen Errungenschaften sind sehr wichtig. Insbesondere angesichts dieser Regierung, die uns nichts außer dem Tod zugesteht.“


Die Frauen werden die Istanbul-Konvention nicht aufgeben

Başaran sprach über die Zeit der Entscheidung zum Austritt aus der Istanbul-Konvention und erklärte, dass die Frauenbewegung weder die nächtliche Aufkündigung des Vertrags durch das Ein-Mann-Regime noch die Zustimmung des Oberverwaltungsgerichts zur Annullierung des Vertrags anerkennen werde. „Die Istanbul-Konvention entstand in einer Zeit, als die Kraft des Frauenkampfes am größten war. Dieses Abkommen ist von Frauen mit großen Anstrengungen zur Unterzeichnung gebracht worden. Um es zu erreichen, trugen Frauen ihre Fälle vor internationale Institutionen. Sie kämpften auf den Straßen und auf den Plätzen dafür. Die Konvention wurde nach Istanbul benannt, da die Türkei der erstunterzeichnende Staat war. Das AKP/MHP-Bündnis raubte nach und nach die Errungenschaften der Frauen. Das Recht auf Unterhalt wurde in Frage gestellt. Mit dem Strafvollzugsgesetz wurden Täter, die wegen Gewalt an Frauen und Kinder einsaßen, aus der Haft entlassen. Obwohl offiziell in gewissem Rahmen erlaubt, ist Abtreibung in der Türkei faktisch verboten. Zurzeit wird das Bürgerliche Gesetz diskutiert. Kein Mann kann für uns entscheiden. Ob der Präsident oder jemand anderes s; Männer müssen aufhören, in unserem Namen zu sprechen und Entscheidungen in unserem Namen zu treffen. Wurde durch Zustimmung des Oberverwaltungsgerichts die Entscheidung zum Austritt aus der Istanbul-Konvention legitim? Nein. Die Istanbul-Konvention ist noch in Kraft. Wir haben nie eine Neuunterzeichnung des Vertrags gefordert, da die Frauen ihn umsetzen werden.“

Der Kampf der kurdischen Frauen schafft die gesellschaftliche Transformation

„Der Kampf der kurdischen Frauen und die von ihnen vorgeschlagene Lösungsperspektive sind auch für die Frauen in der Türkei von großer Bedeutung“ erklärte Başaran weiter. „Wir kämpfen an mehreren Fronten gleichzeitig. Während wir auf der einen Seite für unsere Identität, unsere Sprache kämpfen, kämpfen wir zur gleichen Zeit auch für die Befreiung der Frau. In der Tat sind die historischen Erfahrungen, Siege und Errungenschaften sowie die soziale Transformation der kurdischen Frauen deutlich sichtbar. Genau aus diesem Grund werden sie so hart bekämpft. Die Kämpfe von vielleicht Dutzenden anderer wie unserer Freundin Saliha Aydeniz, Aysel Tuğluk, Semra Güzel, Sebahat Tuncel und Gültan Kışanak wurden ins Visier genommen. Denn die Regierung weiß, dass, sobald der Kampf der kurdischen Frauen unterdrückt wird, die Gesellschaft als Ganzes unterdrückt werden kann. Deshalb gibt es so eine massive Repression. Der kurdische Frauenkampf hat einen enormen gesellschaftlichen Wandel bewirkt. Wir können sehen, dass die kurdischen Frauen durch ihre eigenständige und autonome Organisation Veränderungen bewirken. Dazu gehören Veränderungen in den politischen Parteien oder die Gründung der ersten Frauennachrichtenagentur der Welt. Mit der Jineolojî [Wissenschaft der Frau] hat die kurdische Frauenbewegung tatsächlich eine Wissenschaft offenbart hat, die aussagt, dass Geschichte auch außerhalb einer männerdominierten Perspektive interpretiert werden kann. Aysel Tuğluk wird trotz ihrer bekannten Demenz; einer schweren Krankheit, die jeden Tag ein bisschen mehr ihr Gedächtnis schwinden lässt, wodurch sie ihre eigenen Bedürfnisse im täglichen Leben nicht befriedigen kann, ihr Leben nicht alleine aufrechterhalten kann und jede Veränderung der Umgebung Auswirkungen auf die psychische Gesundheit hat, im Gefängnis festgehalten. Ärzte können das natürlich besser erklären, aber ich habe über die Aspekte gesprochen, die der Gesellschaft bekannt sind. Berichte des Instituts für Rechtsmedizin werden in politisierter Weise als Hindernis für ihre Entlassung genutzt. Wir kennen diese Aspekte sehr gut von den Dutzenden von Verstorbenen, die aus dem Gefängnis kamen. Natürlich wissen wir auch sehr gut, dass es im Fall von Saliha Aydeniz nicht um Widerstand gegen die Polizei geht.“ Der DBP-Vorsitzenden droht aktuell der Entzug ihrer politischen Immunität für eine Klage wegen „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ aufgrund ihrer Teilnahme an einer Demonstration für die Aufhebung der Isolation von Abdullah Öcalan.

Feindlichkeit gegen Kurden dauert an

Başaran betonte, dass die Angriffe auf kurdische Frauen Teil der Feindseligkeit gegen Kurdinnen und Kurden seien, und sagte: „Damit versuchen sie vor allem, kurdische Frauen einen Schritt zurückzudrängen. Eine Maßnahme davon ist die Verwandlung der Justiz, eine andere die Kriegspolitik insbesondere gegenüber kurdischen Frauen in Kurdistan und der Türkei. Vergewaltigung wird als Waffe eingesetzt. Man versucht, die Frauen zu diskreditieren. Man versucht, die Bewegung TJA strafrechtlich zu verfolgen – eine eigenständige, autonome, organisierte Frauenbewegung. Eine Organisation, in der Frauen zusammenkommen, um ihr eigenes Leben zu organisieren. Es ist eine der weltweit tätigen Institutionen. Ihre Mechanismen, Modelle und Alternativen werden angegriffen. Das ist alles Teil dieser Politik. Der Punkt, an dem die Feindseligkeit gegen die kurdische Gesellschaft ihren Höhepunkt erreicht, ist die Feindseligkeit gegenüber ihren Frauen. Wir sprechen von einer Bewegung der Frauen, die sie jahrelang unterdrückt, ignoriert und wie ausgebeutet haben und die heute ein Modell schafft, das Gesellschaften in aller Welt ein inspirierendes Beispiel geben kann, wie zum Beispiel das Modell von Rojava. Frauen haben nicht nur gegen die IS-Barbarei gekämpft, sie haben auch eine alternative Gesellschaft aufgebaut. Sie offenbarten eine neue Lebensform gegen das kapitalistische System. Genau aus diesem Grund werden sie so vehement angegriffen. Natürlich gibt es auch Repressionen gegen feministische Frauen und Frauenbewegungen in der Türkei, aber man muss auch sehen, dass es hier einen zweifachen Angriff gibt, der Teil der antikurdischen Politik ist.“

Die Lösung liegt in unserem gemeinsamen Kampf

Die Türkei habe die 80er, 90er und 2000er Jahre gesehen und jede Regierung, die die Probleme nicht lösen konnte oder wollte, habe verloren, betonte Başaran. Auch die AKP/MHP-Regierung werde daran scheitern, prognostizierte die Politikerin: „Auch wenn sie im Moment sehr stark erscheinen, sollte die Gesellschaft erkennen, dass es sich tatsächlich nur um eine Blase handelt. Sie fahren immer wieder diplomatische Attacken, kehren aber von jedem Angriff mit leeren Händen zurück. Die Regierung versucht, die zu einem gordischen Knoten gewordene Wirtschaftskrise mit irgendwelchen Trostpflastern zu lösen, die alles nur noch schlimmer machen, und reitet sich immer tiefer in den Sumpf hinein bei dem Versuch, die kurdische Frage mit den von ihr präferierten Methoden zu lösen. Durch die Repression gegen die kurdische Frauenbewegung verstärkt sie nur den Widerstand gegen sich selbst. Ich denke, die Menschen sind sich dessen bewusst. Diese Gesellschaft sieht das Licht am Ende des dunklen Tunnels. Die Lösung liegt in unserem gemeinsamen Kampf. Den müssen wir weiter entwickeln. Die Gesellschaft ist nicht ohne Lösungen und Alternativen. Sie muss kein kleineres Übel wählen. Es gibt einen dritten Weg und es gibt eine soziale Kraft, die sich jeden Tag aus der gesamten Gesellschaft neu erschafft; ihr Name ist HDP. Sie trotzt allen Angriffen gegen sie. Es ist nicht jedermanns Sache, so viel Widerstand zu leisten. Würde die AKP selbst nur sieben Tage lang direkt mit dem System konfrontiert werden, das gegen uns angewendet wird; Sie können sicher sein, dass es eine solche Regierung nicht mehr geben würde. Die HDP besteht, weil sie die Hoffnung ist.“