Ein Omnibus wirbt für die Selbstbestimmung der Sorb:innen

In der Lausitz war unlängst ein ganz besonderes Gefährt unterwegs – es ist alt, erfahren und beherbergte schon diverse Menschen, Diskussionen und Gespräche: Der „Omnibus für direkte Demokratie“ warb für die Wahlen zum 2. Sorbischen Parlament.

Verbindung der Sorb:innen zum kurdischen Volk

Omnibus ist lateinisch und heißt übersetzt: für alle, durch alle, mit allen – genau das beschreibt schon ziemlich treffend, was sich die Insassen des Busses zum Ziel gemacht haben: Demokratie, und zwar für alle, durch alle und mit allen. Jannik, der aktuelle Mitfahrer im Bus, mit dem ich es mir am Tisch vor dem Bus im Schatten der Bäume auf dem Bautzener Fleischmarkt bequem gemacht habe, beschreibt sein Verständnis von Demokratie mit der Metapher eines improvisierenden Orchesters, das immer wieder neu verhandelt, was es miteinander spielt. Es gibt verschiedene Musikinstrumente, die miteinander interagieren, sich herausfordern, gemeinsam harmonieren. Es ist wichtig sich gegenseitig zuzuhören, nicht gegeneinander, sondern miteinander zu interagieren und keiner kann schweigen – zumindest nicht durchgehend. Was das Orchester zu dem macht, was es ist, das sind die einzelnen Instrumente, die sich alle unterschiedlich einbringen, mit ihrem speziellen Klang, aber erst gemeinsam wird es ein Ganzes. Ähnlich verhalte es sich mit der Gesellschaft: alle sind individuell Teil und tragen ihre ganz persönliche Note mit rein, aber immer in Interaktion mit allen anderen – daraus ergibt sich dann die Gesellschaft in ihrer Vielfältigkeit.

In der Lausitz sind sie nicht nur mit ihrem Anliegen der direkten Demokratie und der daraus resultierenden Forderung der bundesweiten Volksabstimmung unterwegs, sondern sie wollen hier auch andere unterstützen. Unter anderem Měrćin. Er steht in der Sonne mit zwei Plakaten um den Hals, Flyern in den Händen und einem Lächeln im Gesicht. Seit Wochen macht er Werbung für die Wahlen zur Zweiten Legislaturperiode des Serbski Sejm, dem Sorbischen Parlament, das bis Anfang 2025 von allen Sorbinnen und Sorben bzw. Wendinnen und Wenden (wie sie sich teils nennen) gewählt werden kann. Měrćin ist selbst Sorbe, so wie ca. 60.000 andere Menschen in Deutschland. Auch er kandidiert für die Wahlen.

Měrćin © MF

Wer sind „die Sorben/Wenden“?

Ganz genau lässt sich das nicht beantworten. Im „Sächsischen Sorbengesetz“ heißt es: Zum sorbischen Volk gehört, wer sich zu ihm bekennt. Das Bekenntnis ist frei. Es darf weder bestritten noch nachgeprüft werden. Aus diesem Bekenntnis dürfen keine Nachteile erwachsen.

Klar ist: es gibt eine eigene Sprache, Kultur und Geschichte – die erhalten werden soll.

Die meisten Sorb:innen leben in der Niederlausitz (Brandenburg) und der Oberlausitz (Sachsen). Sie gelten in Deutschland als eine nationale Minderheit und ihre Rechte sind in den Verfassungen der beiden Länder verankert. Während in Bautzen und Umgebung alle um die Sorben wissen, es sorbische Kindergärten, Schulen und Folkloregruppen gibt, Vereine, einen Dachverband (Domovina e.V.) und alle Schilder zweisprachig sind, wissen viele, vor allem in Westdeutschland nicht einmal um deren Existenz.

Laut Měrćin hat das sorbische Volk im Ganzen bisher keinerlei Rechtspersönlichkeit. Es existiere historisch und kulturell, sei aber nicht richtig greifbar. Dadurch könne es nicht mit voller Legitimation aller seiner Zugehörigen wirksam werden und z.B. gegenüber dem Staat, in dem es lebt, auf Augenhöhe seine Rechte einfordern. Dafür brauche es eine geeignete Organisationsform für das gesamte Volk. Diese soll in Form einer Körperschaft des öffentlichen Rechts mit einem demokratisch gewählten Parlament bestehen. Neben dem Parlament sollen auch direktdemokratische Elemente der Meinungs- und Entscheidungsbildung gefördert werden. Es sei wichtig, Eigenverantwortung zu übernehmen und durch innere Selbstbestimmung für sich und seine Zukunft zu sorgen. Das sorbisch/wendische Volk müsse ermutigt werden sich dies auch selbst zuzutrauen, was nach 1000 Jahren Fremdbestimmung ein großer Schritt sei und viel Zeit und Mühe erfordere.

Wir müssen Demokratie lernen

Dass echte Demokratie, Mitsprache und Verantwortung erst gelernt werden müssen, das weiß auch Jannik. Wir müssen Demokratie wirklich erleben, wir müssen erleben, dass die Entscheidungen, die wir gemeinsam treffen auch wirklich Auswirkungen haben. Um etwas verändern zu können, reicht es nicht darüber zu sprechen. Es bedeute nicht, einmal in vier Jahren zu wählen – die eigene Stimme abzugeben – wortwörtlich. Für Demokratie sei das bei Weitem nicht ausreichend, meint er, es gehe darum, sich grundlegend gemeinsam für die Gesellschaft als verantwortlich zu begreifen und wo nötig in die Initiative zu gehen.

Wenn alle sich für die Gemeinschaft verantwortlich fühlten, dann könne sich auch niemand mehr abgrenzen und über die anderen schimpfen – denn man selbst sei genauso Teil wie alle anderen. Dafür müsse sich allerdings auch die Politik grundlegend verändern und neben Wahlen direkte Entscheidungen zu einzelnen Sachfragen ermöglichen und unterstützen. Im Moment gehe direkte Demokratie am besten auf der kommunalen Ebene. Mit der Durchführung von bundesweit mittlerweile 9000 kommunalen Bürgerentscheiden hätten bereits Millionen Menschen in Deutschland erlebt, wie es sei, direkt sein Gemeinwesen mitzugestalten. Darauf lasse sich aufbauen.

Das Erleben solch demokratischer Prozesse und Mitgestaltung sollte natürlich bereits in der Schule anfangen. Janniks Vision: Eine Bildung, die mit heranwachsenden Menschen übt, zu selbstbewussten, verantwortlichen und verständnisvollen Mitgliedern unserer Gesellschaft zu werden.

Der „Omnibus für direkte Demokratie“ tourt seit Jahrzehnten durch Deutschland © MF

Verbindung zum kurdischen Volk und der Föderation Nord- und Ostsyrien

Werner, der den Bus seit 24 Jahren durch alle Lande lenkt und sich selbst als der Kapitän des Omnibusses vorstellt, verweist in Bezug auf direkte Demokratie gerne auf Bookchin und Öcalan. Und auch Měrćin sieht Parallelen zwischen den Ideen, die in Nord- und Ostsyrien umgesetzt werden, als auch zwischen den Sorb:innen und den Kurd:innen. In der Vergangenheit wurde sich schon vorsichtig aufeinander bezogen, zum Beispiel am Welttag der Muttersprache, und es gab erste Gespräche, aber ein tiefergehender Austausch über Erfahrungen und Perspektiven wäre für alle voranbringend.

Wie auch die Kurd:innen sind die Sorb:innen ein Volk ohne eigenen Staat und in administrativen Grenzen, die nicht zu der Realität der Bevölkerung passen. Ebenso sind sie immer wieder Opfer von Unterdrückung, Assimilation und Fremdbestimmung geworden. Und auch die Sorb:innen kämpfen für ihre Selbstbestimmung, Rechte und Demokratie in Verbindung mit der ganzen Gesellschaft.

Die Föderation in Syrien kann bei allen Unterschieden in mancherlei Hinsicht ein Vorbild sein, von dem die Sorbinnen und Sorben lernen können. Besonders spannend findet Měrćin den Gesellschaftsvertrag, der in einem Prozess von der Gesellschaft selbst erarbeitet worden ist. Inspirierend seien auch die Regeln zur Geschlechtergerechtigkeit, zum Beispiel das Prinzip der Ko-Vorsitzenden und die innovativen Ansätze im Bildungs- und Gesundheitswesen. So ein von der Breite getragener Prozess wäre auch für die Entstehung einer sorbischen/wendischen Verfassung und für ein neues Miteinander zwischen den in der Lausitz beheimateten Kulturen wünschenswert. Es geht um Gleichberechtigung der verschiedenen Völker in einem Gebiet – auf Augenhöhe und jeweils mit innerer Selbstbestimmung ausgestattet. Größeren Konflikten könnte der Nährboden entzogen werden, Völker und Minderheiten ließen sich nicht mehr als Spielball der Interessen Dritter missbrauchen, wenn die meisten Dinge mit allen gemeinsam und direkt vor Ort entschieden werden. Staatsgrenzen sollten dabei eine untergeordnete Rolle spielen, sie sollten nicht mehr trennen.

Für das kurdische Volk spürt er Bewunderung, weil es sich trotz der Vergangenheit, in der es schon so viel Unterdrückung erfahren musste, für einen verbindenden und basisdemokratischen Weg entschieden hat und diesen trotz aller Schwierigkeiten entschlossen versucht umzusetzen. Und das in einer Region, in der aus mitteleuropäischer Perspektive die Wenigsten solche innovativen und gleichzeitig nachhaltigen Gesellschaftsentwürfe erwarten würden.

Die Sorbinnen und Sorben wählen ihr Parlament

Derzeit finden die Wahlen zum 2. Sorbischen Parlament statt. Alle, die sich dem sorbischen Volk zugehörig fühlen, können sich für die Wahl ab jetzt registrieren und bis Anfang 2025 per Briefwahl wählen. Dann werden die Stimmen in Nebelschütz ausgezählt. Zur Wahl stehen verschiedene Kandidat:innen, die direkt gewählt werden können. Auch wenn das Parlament bisher nicht offiziell anerkannt ist und parallel zu den Landesregierungen existiert, ist es ein entscheidender Schritt der direkten Selbstbestimmung des sorbisch/wendischen Volkes. Weitergehende Informationen dazu auf:

https://serbski-sejm.de/de/serbski-sejm-warum.html

https://serbski-sejm-2024.de/de/

https://www.youtube.com/watch?v=J6u2nwEvqvk


Marlene Förster (*1993) ist freischaffende Journalistin, Aktivistin und Studentin aus Darmstadt. Sie arbeitet unter anderem für die monatlich in Hamburg erscheinende Publikation „Analyse & Kritik“ und beschäftigt sich vorrangig mit den Konflikten im Nahen Osten und der kurdischen Freiheitsbewegung. 2022 befand sie sich in Bagdad rund einen Monat in einem Gefängnis des irakischen Geheimdienstes. Sie arbeitete zusammen mit einem slowenischen Kollegen im Şengal-Gebirge an einem Filmprojekt über die Selbstverwaltungsstrukturen der ezidischen Bevölkerung, die 2014 Opfer eines von der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) verübten Genozids und Feminizids geworden war. Die irakischen Behörden warfen ihr „Terrorunterstützung“ und „Spionage“ vor.