Demirtaş-Prozess vor europäischem Menschenrechtsgerichtshof

Vor dem europäischen Menschenrechtsgerichtshof ist heute der Fall des ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş verhandelt worden. Wann die Urteilsverkündung erfolgt, steht noch nicht fest.

Vor der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg ist heute der Fall des kurdischen Politikers Selahattin Demirtaş verhandelt worden. Der ehemalige Ko-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP) ist am 4. November 2016 in der Türkei verhaftet worden. Am 20. November 2018 hatte der EGMR die Dauer der Untersuchungshaft für unzulässig erklärt und geurteilt, dass Demirtaş aus politischen Gründen verhaftet wurde und freigelassen werden muss. Die Anwälte von Demirtaş waren gegen Teile des Urteils in Berufung gegangen und forderten ein Urteil, mit dem die Türkei zur Umsetzung gezwungen wird.

Vor zwei Wochen war Demirtaş in seinem Hauptverfahren in Ankara überraschend freigesprochen worden. Er wurde trotzdem nicht aus der Haft entlassen, weil er sofort nach dem ersten EGMR-Urteil in einem anderen Verfahren in Istanbul rechtskräftig verurteilt wurde. Eine Haftprüfung in diesem Verfahren ist noch anhängig.

Bei der heutigen Verhandlung in Straßburg wurde der HDP-Politiker von den fünf Anwält*innen Prof. Dr. Başak Çalı, Dr. Kerem Altıparmak, Mahsuni Karaman, Benan Molu, Ramazan Demir und Aygül Demirtaş verteidigt. Auch die Anwälte der Türkei wurden angehört. Die Große Kammer besteht aus 17 Richterinnen und Richtern. Als dritte Partei war das europäische Menschenrechtskommissariat vertreten.

Die Anwälte von Demirtaş legten eine mit Daten, Dossiers und schematischen Darstellungen unterfütterte Verteidigung vor, in der sie zunächst zum Inhalt des Prozesses erklärten, es gehe darum, dass die Opposition in der Türkei über die Justiz zum Schweigen gebracht werde: „In diesem Prozess geht es nicht nur darum, dass Demirtaş die Freiheit entzogen wird. Dieses Verfahren wird gleichzeitig zeigen, wie der EGMR damit umgeht, dass die Justiz in der Türkei dafür benutzt wird, die Opposition zum Schweigen zu bringen und zu bestrafen.“

Wie Rechtsanwalt Ramazan Demir nach der Verhandlung erklärte, kann sich die Urteilsverkündung monatelang hinziehen. Das Verfahren sei von großer Bedeutung für die politische Ausdrucksfreiheit und die Justiz der Türkei, so der Rechtsanwalt.

Der Prozess wurde von zahlreichen Abgeordneten der HDP und des Europaparlaments beobachtet. Auch die CHP war mit einer Delegation vertreten.

Der HDP-Vorsitzende Sezai Temelli gab nach der Verhandlung eine kurze Stellungnahme vor dem Gerichtsgebäude ab, in der er darauf hinwies, dass von einer unabhängigen und unparteiischen Justiz in der Türkei nicht die Rede sein kann. „In der Türkei gilt ein Rechtssystem, in dem auf Anweisung vorgegangen wird. Urteile werden auf Befehl gefällt. Gegen dieses Justizsystem ist hier heute Gerechtigkeit ersucht worden“, so der Nachfolger als Ko-Parteivorsitzender von Selahattin Demirtaş.

Rechtsanwalt Kerem Altıparmak sprach von einem „Symbol-Prozess“ hinsichtlich des Umgangs mit der kurdischen Frage und dem Kampf für Demokratie und Rechte in der Türkei. Der Ausgang des Verfahrens sei nicht nur wegweisend für die Türkei, er könne auch eine Antwort auf die in Europa zunehmende rechtspopulistische Politik darstellen.