„Nurcan war mit dem Kampf verbunden und liebte das Leben“

Die politische Gefangene Nurcan Bakır hat sich aus Protest gegen die Repressionsmaßnahmen in türkischen Gefängnissen das Leben genommen. Die 45-Jährige saß bereits seit 28 Jahren in Haft und hatte noch zwei Jahre abzusitzen.

Die politische Gefangene Nurcan Bakır hat sich aus Protest gegen die Repressionsmaßnahmen in türkischen Gefängnissen das Leben genommen. Einen Tag vor ihrem Tod erklärte sie: „Ich sehe jede Nacht die ermordeten Kinder in meinen Träumen, ich kann dieser Grausamkeit gegenüber nicht mehr schweigen.“

Nurcan Bakır verbrachte einen Großteil ihres Lebens im Gefängnis. Nach 28 Jahren Haft wurde sie nach einem Hungerstreik für die Aufhebung der Isolation des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan gegen ihren Willen vom Frauengefängnis in Gebze in eine Haftanstalt in Balıkesir verlegt. Aus Protest gegen die Unterdrückung und Repressionsmaßnahmen in den Gefängnissen der Türkei nahm sie sich am 15. Januar in ihrer Zelle das Leben. Nurcan hatte nur noch zwei Jahre bis zu ihrer Entlassung vor sich. Ihre Angehörigen beschreiben sie als eine Frau, die das Leben liebte und mit dem Kampf verbunden war.

Nurcan Bakır wurde 1975 im Dorf Heciya (Sulakdere) in Omerya in der nordkurdischen Provinz Mêrdin (Mardin) geboren. Bis zum Alter von 13 Jahren lebte sie im Dorf. 1988, in einer Zeit äußerst brutaler staatlicher Repressionen gegen die Kurden in der Türkei, migrierte sie mit ihrer Familie nach Adana. Die Familie musste ihre Heimat verlassen, weil sie das Dorfschützersystem ablehnte. Bis 1991 blieb Nurcan und arbeitete mit ihrer Familie in der Landwirtschaft.

Im Jahr 1991 hatte sie genug von der repressiven Politik des türkischen Staates und trat der kurdischen PKK-Guerilla bei. Nur ein Jahr später wurde sie bei einem Gefecht am Berg Kurudere (auch Komirlî, türkisch Nurdağı, Provinz Dîlok/Antep) verletzt und geriet in Gefangenschaft. Dort wurde sie vier Monate lang auf grausamste Weise gefoltert. Später wurde Nurcan vor Gericht gestellt und inhaftiert. Zum Prozessende verurteilte man sie zu 36 Jahren Haft. Die folgenden 28 Jahre verbrachte sie in Gefängnissen in Meletî (Malatya), Amasya, Sêwas (Sivas), Albistan (Elbistan), Midyad, Gebze und Balıkesir.

Hungerstreik und Exil

Nurcan war schwer krank. Sie litt an Zysten an den Eierstöcken, Magengeschwüren, Migräne, diversen Allergien, Herzrhythmusstörungen, niedrigem Blutdruck, einer Nebenniereninsuffizienz und Schwindel. Außerdem trug sie eine Beinprothese. Dennoch trat sie für die Aufhebung der Isolation Abdullah Öcalans in den Hungerstreik. Nach Monaten des Hungerstreiks und dessen erfolgreicher Beendigung, wurde sie gegen ihren Willen von Gebze nach Balıkesir-Burhaniye verlegt. In dieser Zeit zog ihre Familie vertreten durch einen Rechtsbeistand vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), um aufgrund der gesundheitlichen Situation von Nurcan eine vorzeitige Haftentlassung und die Wiederaufnahme des Verfahrens zu erwirken. Einen Tag vor ihrem Tod rief sie ihre Familie noch aus dem Gefängnis an. „Ich sehe jede Nacht die ermordeten Kinder in meinen Träumen. Ich kann dieser Grausamkeit gegenüber nicht mehr schweigen“, soll sie gesagt haben.

Ein Leben lang der Repression ausgesetzt

Nurcans Bruder Aydın Bakır erzählte in einem Gespräch mit Hamdullah Kesen von der Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA): „In den vorherigen Gefängnissen haben wir sie immer besucht. Aber dass wir nach Burhaniye kommen, wollte sie nicht. Ich nehme an, dass es an der Repression lag. Sie stand ständig unter Druck. Einmal rief sie uns an und sagte, wir sollten von Besuchen absehen. Später rief uns die Gefängnisleitung an und sagte, sie sei tot. Man habe sie leblos im Bad aufgefunden. Eine andere Erklärung gab es nicht. Nurcan erlebte dauernd Repression. Dennoch war sie in Frieden mit dem Leben und liebte es. Sie war eng mit ihrem Kampf verbunden.“

Repression gegen die Familie

Aydın Bakır, ein anderer Bruder Nurcans, weist auf repressive Maßnahmen gegenüber der Familie bei Gefängnisbesuchen hin: „Als wir Nurcan einmal besuchten, kam eine unbekannte Person in leitender Funktion auf mich zu und forderte mich zu einem Gespräch auf. Daraufhin brachte man uns in einen gesonderten Raum. Dort fragte man uns, weshalb wir eine ‚Terroristin‘ besuchten und schlug auf uns ein. Sie legten uns nahe, wir sollten nicht noch einmal kommen. Auch in Sêwas erlebten wir Repression. An einem Besuchstag nahm man mir meine Handy-Karte ab und zerbrach sie. Ich schilderte den Vorfall einem Offizier, doch der entgegnete nur, die Karte könnte schon vorher defekt gewesen sein. Daraufhin blieb uns die Spucke weg. Was hätten wir denn machen können?“, fragt Bakır.

„Meine Tante war eine Heldin“

Der Neffe von Nurcan, Orhan Bakır, sagt: „Meine Tante war eine Heldin.“ Als unsere Familie nach Adana ging, sagte sie, dass es ihr dort nicht gefalle. Sie vermisste ihre Heimat. In unserem Dorf war sie Zeugin von Folter geworden. Dennoch hat sie nicht einmal ihren eigenen Namen verraten, als sie in Gefangenschaft geriet.“

Dorfschützer sind paramilitärische Einheiten, die in Kurdistan gegen die Guerilla und regierungskritische Kurd*innen eingesetzt werden. Sie bestehen zu einem beträchtlichen Teil aus Stammesführern, Großgrundbesitzern, Familien und Einzelpersonen, die oft seit Jahrzehnten mit dem Staat zusammenarbeiten und versuchen, in Kurdistan für die Interessen des Staates einzutreten. Ein Teil der Dorfschützer tritt diesem System freiwillig bei, andere werden mit Mord, Verhaftung und Vertreibung bedroht und müssen unter Druck Dorfschützer werden. Millionen von Kurd*innen, die eine Kollaboration abgelehnt haben, mussten entweder flüchten oder sich dem Druck des Militärs und der Dorfschützer beugen. Tausende kurdische Dörfer, die das Dorfschützersystem ablehnten, wurden vom Staat niedergebrannt und dem Erdboden gleichgemacht.