Erdoğan und die Angst vor organisiert kämpfenden Frauen

„Femizide und Rassismus bekämpfen!“, fordert das Afrin-Widerstandskomitee Berlin und ruft zum internationalistischen Block auf der Großdemonstration gegen den Erdoğan-Besuch in Berlin am kommenden Freitag auf.

Das Spektrum des Protests gegen den Besuch des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan wird immer größer. Immer mehr geladene Gäste aus allen Bundestagsfraktionen, einschließlich Bundeskanzlerin Angela Merkel, sagen ihre Teilnahme an dem Bankett ab, das Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier für Erdoğan ausrichtet. Die „Erdogan not welcome“-Plattform wird von über hundert Organisationen unterstützt. Neben zwei Großdemonstrationen in Berlin und Köln sind zahlreiche kleinere Protestaktionen angekündigt. Bereits am vergangenen Wochenende haben in zehn deutschen Städten Demonstrationen und Kundgebungen stattgefunden.

Während in den großen deutschen Medien zumeist als Grund für die verbreitete Protesthaltung gegen diesen Staatsbesuch die als Geiseln des Erdoğan-Regimes inhaftierten Deutschen aufgeführt werden, legt der Deutsche Journalistenverband den Schwerpunkt auf die abgeschaffte Pressefreiheit in der Türkei und die Deutsch-Israelische Gesellschaft fordert, dem Antisemiten Erdoğan keinen roten Teppich auszurollen.

Das Afrin-Widerstandskomitee Berlin thematisiert hingegen in seinem Aufruf zur Teilnahme am internationalistischen Block auf der Demonstration am kommenden Freitag die frauenfeindliche Politik des Erdoğan-Regimes und stellt einen Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Rollback auch in Deutschland her.

Im Folgenden dokumentieren wir den Aufruf des Afrin-Widerstandskomitees Berlin:

„Unter der Diktatur Recep Tayyip Erdoğans verschlechtern sich die Lebensbedingungen für Frauen zunehmend. Fast jede zweite verheiratete Frau in der Türkei wird Opfer von Gewalt. Fälle in denen Frauen aufgrund des Tragens ‚nicht angemessener‘ Kleidung in der Öffentlichkeit verprügelt werden, beginnen sich zu häufen. Laut offiziellen Zahlen starben alleine im Jahr 2017 409 Frauen durch Gewalt von Männern, 332 Frauen wurden Opfer sexueller Gewalt. Im selben Jahr wurden bis zu fünf Frauen am Tag in der Türkei umgebracht. Und der Staatspräsident verkündet öffentlich, Frauen hätten mindestens fünf Kinder zu bekommen, während seine Parteikollegen ihnen das Lachen in der Öffentlichkeit untersagen möchten. Frauen, die sich gegen diese lebensbedrohlichen Zustände organisieren, werden vom Staat verfolgt. Regelmäßig werden Demonstrationen niedergeknüppelt und enden in Massenfestnahmen.

Doch nicht nur in der Türkei sehen wir uns mit einem gesellschaftlichen Rollback konfrontiert. Auch in Deutschland ist die Gewalt gegen Frauen steigend. Auch in Deutschland sind antifeministische, reaktionäre und chauvinistische Positionen wieder auf dem Vormarsch. Nicht zuletzt durch die Wahlerfolge des deutschen Pendants der AKP, der ‚Alternative für Deutschland‘, der Rechtsaußen-Politik der CDU/CSU, den Aufmärschen selbsternannter Lebensschützer*innen entstand eine antifeministische und rassistische Diskursverschiebung, die bereits jetzt Früchte trägt. Der Ruf nach einer vermeintlichen ‚Rückbesinnung auf klassische Familienwerte‘ ist derzeit vielerorts hörbar. Konservative, patriarchale Gesellschaftsvorstellungen scheinen wieder hoffähig zu werden.

Wenn wir am 28. September gegen den Besuch des Diktators Recep Tayyip Erdoğan in Berlin und am 29. September zur Verteidigung des anarcha-queer-feministischen Hausprojekts Liebig 34 auf die Straße gehen, dann tun wir dies auch, um gegen die frauenfeindliche Politik des Regimes in der Türkei und den europäischen Rechtsruck Position zu beziehen. Position gegen diejenigen, die das Leben verachten und von Unterdrückung profitieren. Aber auch Position für die, die sich gegen diese Zustände organisieren, sei es in Kurdistan, der Türkei, Deutschland oder sonst wo auf der Welt. Denn das, wovor sich die Mächtigen dieser Welt am meisten fürchten, sind organisierte, kämpfende Frauen. Weiterhin sollten wir uns der Bedeutung dieses Staatsbesuches bewusst sein und uns vor Augen halten, dass genau diese Treffen es sind, bei denen sich internationale Machtstrukturen erneuern und festigen. Bei denen Feinde ausgemacht, Menschenrechte gebrochen und wirtschaftliche über humanitäre und ökologische Interessen gestellt werden.

Ein Beispiel ist etwa das jüngste Treffen von Erdoğan und Putin in Sotschi. Hier wurde eine entmilitarisierte Zone in Syrien unter türkisch-russischer Kontrolle verhandelt. Diese ‚Einigung von Idlib‘, bei der Erdoğan als eine Art Unterhändler für al-Qaida auftrat und bei der die Freund*innen und Verteidiger*innen der Revolution in Rojava, die PYD, YPG und YPJ als Terroristen und als ‚das eigentliche Problem‘ verleumdet wurden, zeigt nur zu deutlich, welche Auswirkungen diese Treffen der Mächtigen zur Folge haben. Wieder einmal wurden Bündnisse geschlossen, die es den Despoten erlauben, in Syrien die Menschen zu terrorisieren, ohne sich dabei in die Quere zu kommen.

Diese Staatsbesuche und Zusammentreffen richten sich immer auch gegen uns als Internationalist*innen und gegen alle die, die sich für Humanität, Ökologie, Freiheit und Gleichheit einsetzen und deren größtes Ziel eine wahre Demokratie und ein gleichberechtigtes Zusammenleben sind. Bei dem kurzen Besuch Erdoğans am 28. September in Berlin wird er gleich zweimal auf Merkel treffen und es ist davon auszugehen, dass auch hier wieder wirtschaftliche sowie geopolitische Interessen beider Parteien verhandelt werden. Dabei wird ein weiteres Mal sichtbar, wie wenig Interesse die Regierung in Deutschland an Demokratie und Freiheit hat. Weder im eigenen Land, unter anderem sichtbar an der massiven Verfolgung und Repressionen gegen die kurdische Freiheitsbewegung und ihre Unterstützer*innen, noch außerhalb ihrer Grenzen, was an dem sogenannten ‚Flüchtlingsdeal‘ mit Erdoğan, den massiven Genehmigungen für Waffendeals oder dem Vorantreiben des Großprojekts zur Schaffung einer Grenze in Nordafrika sichtbar wird. Von Humanität keine Spur. Die Verursacher*innen des Elends schotten sich ab und rüsten auf, während Menschen, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um anderen zu helfen, kriminalisiert und eingesperrt werden.

Eine besonders offensichtliche Farce ist, dass ein Diktator wie Erdoğan, der direkt verantwortlich für unzählige Tote und Vertriebene ist, in Berlin vor den Augen der Weltöffentlichkeit an der zentralen Gedenkstätte für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft einen Kranz niederlegen wird. Damit wird er, für alle sichtbar, Salz in die Wunden seiner Opfer streuen. Doch nicht allein Erdoğan und sein Unrechtsregime sind das Ziel unseres Widerstands, sondern genauso die deutsche Regierung, die von Humanität und Demokratie redet, aber im Interesse deutscher Profite und Geopolitik nach außen Diktaturen unterstützt und nach innen diejenigen kriminalisiert, die für eine solidarische und demokratische Welt kämpfen. So wenig wir einen patriarchalen Diktator brauchen, so wenig brauchen wir einen heuchlerischen Staat, der behauptet, demokratisch zu sein, aber letzten Endes nur im Interesse des Kapitals handelt.

Wir werden es nicht zulassen, dass Erdoğan ohne Protest und Widerstand hier in Deutschland seine Macht weiter international legitimieren lässt. Wir werden nicht tatenlos zuschauen, wie Merkel und ihre Regierung weitere Waffendeals verhandeln und der gerade wirtschaftlich sterbenden Diktatur in der Türkei finanziell erste Hilfe leisten. Wir werden keine Ruhe geben, bevor nicht jede patriarchale, kapitalistische und faschistische Machtstruktur beseitigt und der Weg frei ist für Geschlechterbefreiung, Freiheit und Demokratie. Und wir werden uns nie einschüchtern lassen von ihrer massiven Gewalt und ihren Repressionen, denn das Unrecht ist heute Recht und unser Widerstand daher Pflicht!“