Demirtaş: E-Kundgebung aus der Gefängniszelle

Selahattin Demirtaş, der inhaftierte Kandidat der Demokratischen Partei der Völker (HDP) für das Amt des Präsidenten der Türkei, veranstaltete eine Kundgebung über Twitter.

In Anspielung auf die Schlagzeile der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi „Zum ersten Mal in der Geschichte der Demokratie bekommt ein inhaftierter Kandidat für das Amt des Staatspräsidenten die Möglichkeit, im staatlichen Fernsehen zu sprechen“, schrieb Demirtaş ironisch: „Zum ersten Mal auf der Welt findet eine E-Kundgebung aus einer Gefängniszelle statt. Dieser Moment wird in die Geschichte der Demokratie eingehen. Anadolu sollte sofort eine Eilmeldung verbreiten.“

Wir veröffentlichen die gestern über Twitter verbreitete Erklärung von Selahattin Demirtaş in Auszügen:

„Guten Tag! Ich grüße all die Menschen, die überall auf der Welt auf die Straße gehen, von Herzen. Zum ersten Mal auf der Welt findet eine E-Kundgebung aus einer Gefängniszelle statt. Dieser Moment wird in die Geschichte der Demokratie eingehen. Anadolu sollte sofort eine Eilmeldung verbreiten.

Ich danke den Millionen Menschen, die trotz Repression und unfairer Bedingungen im Wahlkampf arbeiten, der Jugend, den Frauen, meinen Anwälten, meinen Parteifreunden, meiner Partnerin, meiner Familie und meinem Zellengenossen Abdullah Zeydan. In einer Zeit, in der ein gnadenloses Medienembargo praktiziert wird, danke ich außerdem der freien Presse, welche die Ehre des Journalismus bewahrt, und den Nutzern sozialer Medien. Und natürlich danke ich euch, unserem würdigen Volk, das die Plätze füllt. Willkommen bei #DemirtaşTwitterMitingi!“

Die Wahl zwischen Demokratie und Diktatur

„Meine lieben Schwestern und Brüder, wir werden in drei Tagen zur vielleicht wichtigsten Wahl in unserer politischen Geschichte an die Urnen gehen. Bei diesen Wahlen geht es jedoch nicht darum, einer Partei unter verschiedenen anderen den Vorzug zu geben. Liebe Bevölkerung! Werte Menschen dieses Landes! Wenn ihr den Wahlstempel in die Hand nehmt, dann trefft ihr eigentlich die Wahl zwischen zwei Alternativen: Entweder wählt ihr den einen Mann oder viele Menschen. Entweder gebt ihr der Demokratie oder der Diktatur den Vorzug.

Arbeiterinnen, Arbeiter, Angestellte! Liebe Bevölkerung! Entweder ihr wählt diejenigen, welche die Minenarbeiter von Soma mit Tritten attackiert haben, oder ihr wählt die Arbeiter, die nach dem Grubenunglück aus der Ambulanz gestiegen sind, weil sonst die Liegen schmutzig würden. Entweder ihr wählt diejenigen, die eure Bosse mit den Worten angesprochen haben ‚Wir haben den Ausnahmezustand gebracht, damit eure Arbeiter nicht streiken‘ oder ihr wählt die Arbeiter*innen, die den Lohn ihres Schweißes durch ihr Streikrecht verteidigt haben. Entweder ihr wählt die Banken, die das Geld der Steuerzahler in Milliardenkredite für die Chefs der Staatsmedien pumpen oder die Bauern, die ihre Schulden nicht zurückzahlen können und aus Protest vor der gleichen Bank ihre Ernte verbrennen und ihre Milch ausgießen.

Entweder ihr wählt diejenigen, die mit den weißen Toros [Anm. d. Red: Weiße Autos der Marke Toros sind zum Symbol des Verschwindenlassens durch die Todesschwadronen des türkischen Geheimdienstes JITEM geworden] in den 90er Jahren ihre Macht demonstrierten, oder diejenigen, die mit den 90er Jahren abrechnen und die Tür zu einem freien Leben aufstoßen.

Sie nennen uns Separatisten, aber die größten Separatisten in diesem Land, welche die Sprachen, die Religion, die Lebensgewohnheiten der Menschen nach ihren politischen Ansichten trennen und alle, die sie nicht wählen oder ihnen keine Gefolgschaft leisten, als ‚Terroristen‘ bezeichnen, sind sie selbst. Sie haben die Gerechtigkeit des Hl. Umar [Anm. d. Red.: der für Toleranz und Ausgleich steht] versprochen, sind aber zum Tyrannen Yezid geworden. Der Staat ist zu einem Familienunternehmen geworden. Die Medien sind auf der Brautseite, der Energie- und Waffensektor beim Bräutigam, die Bildung liegt beim Sohn und der Geheimdienst beim Schwager.

Sie haben mit der Parole ‚Die kurdische Frage ist mein Problem‘ von der Bevölkerung Stimmen erhalten, heute schauen sie den Kurden in Diyarbakir in die Augen und sagen ‚Es gibt keine kurdische Frage‘.

Unser Land mit seiner Vielfalt, mit seinem historischen Erbe, seiner Natur, seinen vielen Kulturen, Sprachen und Religionen besitzt die größten Reichtümer der Welt. Wir sind viele, die nicht bereit sind, diesen Reichtum für einen Mann und sein Gefolge aufzugeben. Wir sind viele, und wir sind stark.

Also was sollen wir machen? Werden wir nur kritisieren? Sind wir hilflos? Nein! Wir sind nicht hilflos! Die Macht zur Veränderung liegt in dem Stempel in deiner Hand. Der Zustand unseres Landes ändert sich durch dich. Wenn wir unsere Kräfte von Edirne bis Hakkari vereinen, dann können wir das Ruder herumreißen.“

Kronleuchter statt Glühbirne

„Entschuldigt, dass ich euch etwas warten lassen habe. Das ist kein Fehler im Prompter [Anm. d. Red.: Anspielung auf Erdoğans misslungene Rede wegen eines Fehlers im Prompter], das Wasser im Wasserkocher [Anm. d. Red. Der Wasserkocher von Demirtaş wurde bei einer Razzia seiner Zelle vom Gefängnispersonal kontrolliert, ob er einen geheimen Internetzugang haben könnte.] war alle und ich hatte darauf gewartet, dass es kocht. Ich schwöre, der Wasserkocher kocht unglaublich. Nach zehn bis 15 Tweets ist das Wasser alle. Ich wollte ihn an eine Gasflasche anschließen, aber die Gefängnisleitung lässt mich nicht. Ja, also, was wollte ich sagen, wir sind viele und wir sind stark.

Wenn wir unsere Kräfte von Edirne bis Hakkari vereinen, dann können wir das Ruder herumreißen. Dafür ist es nötig, uns nicht mit einem Mann, einer Überzeugung, einer Glühbirne [Anm. d. Red.: Symbol der AKP] zu vereinen. Wir können uns auf der Basis der universellen Werte der Demokratie vereinen. Lasst uns nicht eine Glühbirne, sondern ein Kronleuchter ein. Lasst uns gemeinsam Schritte des Friedens und der Demokratie gehen, Schritte, die jede Art von Gewalt beenden, lasst uns eine zeitgemäße Verfassung entwickeln. Lasst uns den Ausnahmezustand aufheben und die Unterdrückung durch die Dekrete beenden. Lasst uns für die Unabhängigkeit der Medien, der Justiz und der Universitäten sorgen. Lasst uns die Lagerbildung und Polarisierung beenden. Lasst uns gleichzeitig die Landwirtschaft, die Tierhaltung, die Industrie und die Türkei aus der Krise holen. Mehr Lohn und Sicherheit für die Arbeiter*innen, Arbeit für die Jugend und ein würdiges Leben für die Menschen in Rente. Lasst uns den Lohn für unseren Schweiß gemeinsam gewinnen. Das Volk und das Land sollen sich entwickeln.“