Der Hungerstreik zählt zu einem der wenigen politischen Mittel des Widerstands, die Menschen im Gefängnis zur Verfügung stehen. Gleichermaßen ist er aber auch eine Demonstration der Standhaftigkeit und des ungebrochenen Willens. Als mit dem Militärputsch vom 12. September 1980 in der Türkei ein Sturm der Unterdrückung und Verfolgung wehte und tausende Revolutionär:innen und Arbeiter:innen unter dem Vorwand, „das Wohl und die Unteilbarkeit des Landes wiederherzustellen“ verhaftet wurden, reagierten die Gefangenen ebenfalls mit Hungerstreiks. Unter den Gefangenen waren auch Gründungsmitglieder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die im Gefängnis von Diyarbakir, der „Hölle von Amed“, inhaftiert waren.
Die Gefangenen im Zindana Amedê, wie das Militärgefängnis im Kriegsrecht auf Kurdisch genannt wurde, wurden Zeugen und Opfer besonders barbarischer und erbarmungsloser Abläufe an Gewalt, Torturen, Misshandlungen und Erniedrigungen: mit sexualisierter Gewalt, Vergewaltigung, Psychoterror, Prügeln und Elektroschocks, bei denen spezielle Elektroden an den Genitalien befestigt wurden, dem Baden in Fäkalien, Schlaf-, Nahrungs- und Wasserentzug für lange Zeiträume, Übungen unter extremen Temperaturen, dem Quetschen, Abpressen und Strecken von Körperteilen und Genitalien, Verbrennen mit Zigaretten und Herausreißen von Haaren, Nägeln und Zähnen sowie dem Zwang, Hundeexkremente zu essen, versuchte der Staat sie systematisch ihrer kurdischen Ideologie und Gesinnung zu entwurzeln, ihren unermesslichen Kampf um die Bewahrung ihrer ethnischen Identität zu zerschlagen und sie mit zwangsassimilierenden Maßnahmen wie dem Verbot ihrer Sprache nach türkischem Nationalbild zu formen. Alle Überzeugungen von den Idealen, Träumen und Utopien der Gefangenen sollten gebrochen werden.
Mehmet Hayri Durmuş, Akif Yılmaz, Kemal Pir und Ali Çiçek (v.l.n.r.)
Die Reaktion der Gefangenen darauf waren Hungerstreiks. Sie protestierten damit auch gegen die „Einheitskleidung“ in Gefängnissen, die vom Putsch-Architekten Kenan Evren eingeführt worden war. Einige der Insassen in Amed gaben auf, andere widersetzten sich weiterhin der Folter und Unterwerfung. Einer von ihnen war der PKK-Kader Mazlum Doğan. An Newroz 1982 entzündete er drei Streichhölzer, legte sie auf den Tisch in seiner Zelle und nahm sich das Leben. Er hinterließ die Nachricht: „Aufgeben ist Verrat, der Widerstand bringt den Sieg”. Vier PKK-Gefangene folgten seiner Aktion: Am 18. Mai 1982 zündeten sich Ferhat Kurtay, Eşref Anyık, Necmi Öner und Mahmut Zengin selbst an.
Keine zwei Monate später, am 14. Juli 1982, gingen die zentralen PKK-Mitglieder Kemal Pir, Mehmet Hayri Durmuş, Akif Yılmaz und Ali Çiçek in der Hölle von Amed vom Hungerstreik in ein Todesfasten über. Sie forderten das „Ende der Folter, der eingeforderten Militärdisziplin und der Einheitskleidung“. Ihre Aktion gilt als erster Funke des Widerstands, wurde aber nicht nur begonnen, um die Zustände in den Gefängnissen anzuprangern, sondern auch, um ein revolutionäres Zeichen zu setzen an die Menschen außerhalb der Gefängnismauern, in den Dörfern und Städten und an die linken Bewegungen, die Massen aufs Neue zum Kampf gegen das Unterdrückungsregime der Türkei anzufeuern. 55 Tage nach Beginn des Todesfastens verlor Kemal Pir im Alter von 20 Jahren sein Leben. Bis zum heutigen Tag wird er als Verkörperung des radikalen und internationalistischen Geistes der Bewegung und als Brücke zwischen den Kämpfen türkischer und kurdischer Menschen geehrt. Kemal Pir war Lase und stammte aus der Schwarzmeer-Provinz Gümüşhane.
In der Türkei inhaftierte PKK-Gefangene in den 1980er Jahren
Mehmet Hayri Durmuş, Ali Çiçek und Akif Yılmaz starben ebenfalls im Verlauf der Aktion. Das Todesfasten wird seitdem von der PKK als „großer Widerstand des 14. Juli“ bezeichnet. Gut zwei Jahre nach Beginn des Todesfastens wurde am 15. August 1984 in Dih (Eruh) der erste Schuss der PKK gegen die türkische Besatzungsmacht abgegeben – und der bewaffnete Befreiungskampf eingeleitet. Die Einführung von Einheitskleidung durch Kenan Evren wurde aufgrund des Widerstands der Gefangenen Ende 1986 aufgegeben. Als Ergebnis ihres Kampfes endete auch die Ära von Esat Oktay Yıldıran, leitender Offizier der Hölle von Amed, dessen Name bis heute in der Türkei synonym für Folter steht. Sakine „Sara“ Cansız, Mitbegründerin der PKK, die nach dem Putsch von 1980 zwölf Jahre in Haft verbrachte, beschrieb in ihren Memoiren sexuelle Gewalt als übliche Folterpraxis unter Yıldıran. Im Gefängnis von Amed galt sie sowohl für ihre weiblichen als auch männlichen Mitgefangenen als ein Widerstandssymbol. „Wer bist du, dass ich dir gegenüber strammstehen soll! Ich beuge mich den Henkern nicht!“, soll sie dem Folterer Yıldıran entgegnet haben, bevor sie ihm ins Gesicht spuckte. Im Januar 2013 wurde Sara zusammen mit ihren Weggefährtinnen Fidan „Rojbîn“ Doğan und Leyla „Ronahî“ Şaylemez in Paris von einem Attentäter des türkischen Geheimdienstes MIT erschossen. Yıldıran selbst, der schon 1974 bei der türkischen Invasion Zyperns durch Gräueltaten aufgefallen war, wurde 1987 in Istanbul von PKK-Militanten getötet. Bevor der Schütze den tödlichen Schuss abgab, sagte er noch: „Der Lase Kemal (Pir) lässt dich grüßen.“