„Ein Angriff auf Qendîl wird einen großen Krieg mit sich bringen“

Murat Karayilan äußert sich in einem Fernsehinterview mit Stêrk TV zur Wahlkampftaktik Erdoğans sowie zur angekündigten Militäroperation der türkischen Armee gegen die Qendîl-Region.

In einem Interview mit dem Fernsehsender Stêrk TV äußerte sich Murat Karayilan, Mitglied des Exekutivrates der Arbeiter*innenpartei Kurdistans PKK (Partiya Karkerên Kurdistan) und Oberkommandierender der Volksverteidigungskräfte HPG, zur Wahlkampftaktik des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan. Dieser hatte in der heißen Phase des Wahlkampfs neue Militäroperationen gegen PKK-Stellungen in den Qendîl-Bergen angekündigt, um Unterstützung für seine Regierung zu mobilisieren. „Unser Ziel ist es, den größten der Terroristensümpfe trockenzulegen“, hatte Erdoğan auf einer Wahlkampfkundgebung seiner Partei AKP gesagt. Die türkische Armee habe bereits „wichtige Ziele neutralisiert“, titelten auch AKP-treue Medien. Meldungen, wonach die Luftangriffe der türkischen Armee zu Verlusten bei der Guerilla in Qendîl geführt haben sollen, wurden von den Volksverteidigungskräften mehrfach dementiert.

Im Folgenden veröffentlichen wir einige Auszüge des Interviews mit Murat Karayilan.

Der türkische Staat beabsichtigt die Annexion Südkurdistans

„Mit der Besatzung Südkurdistans verfolgt der türkische Staat sein Konzept, die kurdische Freiheitsbewegung zu zerschlagen. Dementsprechend steht Qendîl im Mittelpunkt dieser Pläne. Die Qendîl-Region ist in gewissem Sinne das Hauptquartier unserer Bewegung und ein strategisches Gebiet in Südkurdistan. Die Türkei versucht mit ihren Angriffen und der Besatzung dieser Region, die PKK aus Südkurdistan zu vertreiben und durch Druck auf die Regierung der Autonomen Region Kurdistan die Annexion von Kerkûk zu erwirken. Sollte sich der türkische Staat in der Region zu einer Macht etablieren, würde sie dadurch ihren Einfluss auf die Politik der südkurdischen Regierung ausbauen können. Hier geht es nicht um Wahlen, sondern um die wahren Absichten des türkischen Staates und das neue Projekt der AKP-MHP-Regierung.

Können sie einschätzen, was sie in Qendîl erwartet?

Momentan stehen die Parlaments-und Präsidentschaftswahlen am 24. Juni auf der Tagesordnung. Erdoğan erhofft sich mit Propaganda wie ‚Was die kurdische Frage betrifft, so bin ich erfolgreich. Ich töte Kurden, dadurch erweitere ich die Türkei‘ einen Wahlerfolg. Mit einem Feldzug gegen die Kurden kämpft er somit um die Stimmen der nationalistischen Wähler des türkischen Volkes. Auf Kriegspropaganda wird ein besonders großer Wert gelegt.

Es heißt, dass sie nach Qendîl marschieren, ihre Flagge hissen und dann weiter in den Şengal wollen, um anschließend von dort aus weiter nach Mexmûr zu ziehen. Sie stellen es so dar, als sei es ein Kinderspiel für sie, zu tun und lassen, was sie wollen. Die Realität sieht jedoch anders aus. Wir kennen den türkischen Staat nur zu gut und sind bestens über seine militärische Stärke informiert. Wir sind uns auch im Klaren darüber, dass dieses Gerede momentan nichts weiter als Propaganda ist. Wissen die denn überhaupt, was sie in Qendîl erwartet? Es ist nicht besonders einfach, nach Qendîl zu kommen.

Ohne Unterstützung der südkurdischen Kräfte ist die Türkei aufgeschmissen

Im Alleingang wird der türkische Staat gegen uns nicht ankommen, das hat unsere 35-jährige Praxis gezeigt. Sofern sie mit einer breit angelegten Militäroffensive Erfolge erzielen möchten, benötigen sie einen Partner an ihrer Seite. Gewisse Kurden eventuell. In Efrîn beispielsweise waren es die arabischen Dschihadisten, die ihnen zur Hand gegangen sind. Die türkische Armee besitzt eben nicht die Fähigkeit, ohne Kraftreserven zu kämpfen. Mit anderen Worten, ohne Hilfe und Unterstützung der südkurdischen Kräfte wird die türkische Armee nichts bewirken können. Es liegt zwar nicht in unserem Interesse, sollte Südkurdistan aber dennoch – so wie es bereits in der Vergangenheit der Fall war – zu Hilfe eilen, wird es trotzdem nicht gewinnbringend für die Türkei ausfallen. Ein Angriff auf Qendîl wird einen großen Krieg mit sich bringen, der nicht besonders einfach sein wird. Der türkische Staat müsste mit gewissen Kräften in der Region einen Pakt schließen. Dann wären sie womöglich bereit, uns anzugreifen. Was wir sicher sagen können ist jedoch, dass wir einen großen Krieg führen und einen gewaltigen Widerstand leisten werden.

Erdoğan brüstet sich mit dem Töten von Menschen

Jeden Tag prahlen sie mit Luftangriffen. Es gibt nicht wirklich viele Führungspersönlichkeiten auf der Welt, die Tod und Mord als Propagandamittel für einen Wahlerfolg instrumentalisieren. Tagtäglich brüstet sich Erdoğan mit der Ermordung von Kurdinnen und Kurden, die nicht als gleichberechtigte Bürger angesehen, sondern als „sogenannte Bürger“ bezeichnet werden. Jeden Tag prahlt er voller Stolz damit, wie viele Menschen sie umgebracht haben wollen. So versucht Erdoğan erfolgreich zu sein. Sein Verhalten zeigt uns das rassistische und chauvinistische Niveau, das er mittlerweile erreicht hat.

Keine Verluste in Qendîl

Wenn es nach der türkischen Regierung geht, finden täglich Militäroperationen statt, die zu hohen Verlusten innerhalb der Guerilla führen. Die Öffentlichkeit sowie das kurdische Volk und die Völker der Türkei sollten wissen, dass diese Propaganda nicht den Tatsachen entspricht.

Am 12. Juni führte das türkische Besatzerheer eine breit angelegte Luftoffensive gegen die Qendîl-Region durch. In diesem Rahmen wurden 14 Ziele getroffen. Am 15. Juni wurde in der Zeit zwischen 20.00 Uhr und 20.50 Uhr das Gebiet um Dola Şehîdan bombardiert. Keiner dieser Angriffe hat zu Verlusten bei der Guerilla in Qendîl geführt. Hinsichtlich des Angriffs auf Dola Şehîdan behauptet Erdoğan, die Luftschläge hätten 35 Guerillakämpfer*innen während einer Versammlung getötet. Am 12. Juni seien angeblich 26 weitere Kämpfer*innen, inklusive einer hochrangigen Person, umgekommen. All diese Äußerungen entsprechen nicht im geringsten der Wahrheit. Natürlich kommt es vor, dass Luftangriffe zu Verlusten führen. In Qendîl haben wir jedoch keinen Verlust erlitten.

Gewiss wird Erdoğan die Anweisung zu Luftangriffen erteilt haben, da über der Region Aufklärungsflugzeuge zu verzeichnen sind. Wenn diese wiederum keine Ziele orten können, werden willkürliche Bombardierungen durchgeführt, die zu hohem Sachschaden in den Anbauflächen der ansässigen Zivilbevölkerung verursachen.

Wie ich bereits sagte, entsprechen die Aussagen zu Verlusten in Qendîl nicht der Wahrheit. Wir haben in den vergangenen Tagen zwar einige Kämpfer*innen verloren, jedoch nicht in den Medya-Verteidigungsgebieten. Die Luftangriffe halten aber weiterhin an. Erst heute wurden die Regionen Avaşîn, Zap und Basyan bombardiert. Nähere Informationen über das Ausmaß der Angriffe liegen im Moment nicht vor.

In anderen Gebieten mussten wir jedoch Verluste verkraften. In Besta zum Beispiel hielt die am 8. Juni angelegte Operation bis zum 10. Juni an. Das Operationsgebiet umfasste dabei Besta, Herekol, Pîro und Ramûran. Fast drei Tage fand zwischen der Guerilla und der türkischen Armee ein ernstzunehmender Krieg statt. Die Türkischen Streitkräfte TSK sprachen zunächst von einem toten und weiteren vier verletzten Soldaten. Später ‚korrigierten‘ sie diese Angaben und gaben bekannt, dass im Zuge der Gefechte auch ein Offizier getötet wurde. Wir wissen jedoch, dass sie weitaus mehr Verluste erlitten haben. In unseren Reihen ist es ebenfalls zu Verlusten gekommen. Die Identitäten der Gefallenen müssten inzwischen veröffentlicht worden sein. Bei Verlusten innerhalb der Guerilla sind wir dazu verpflichtet, diese der Öffentlichkeit mitzuteilen. Aber wie gesagt, in Qendîl ist dies nicht der Fall. Im Allgemeinen haben die meisten ihrer Luftangriffe kaum Wirkung.

Sollen sie doch hierherkommen

Die Qendîl-Region in Südkurdistan ist ein strategisches und sehr altes Gebiet. Im Moment diskutieren sie über die angebliche Räumung der Region. Die Guerilla hat Qendîl nicht geräumt. Und auch die dort ansässige Bevölkerung leistet weiterhin Widerstand gegen den türkischen Staat, so wie sie es seit bereits 20 Jahren macht. Die Menschen dort haben weder ihre Häuser verlassen, noch ihre Dörfer. Es sind die Bewohner von Qendîl, die die Realität des türkischen Staates in Südkurdistan am besten verstehen.

Für das Volk von Qendîl haben wir schon immer tiefen Respekt empfunden. Niemand hat die Region geräumt. Sollte die türkische Regierung mit ihren Behauptungen meinen, dass unsere Organisation Qendîl verlassen hätte, kann ich ihnen nur raten, selbst nachzuschauen. Natürlich werden Sicherheitsvorkehrungen getroffen, daran die Region zu verlassen; denken wir allerdings nicht. Sowohl aus historischer Sicht als auch heute ist Qendîl für Kurdistan von enormer Bedeutung. Die Region ist eine Hochburg des Widerstands.

Die Existenz des kurdischen Volkes stellt für den türkischen Staat eine Bedrohung dar

Ich beabsichtige nicht, irgendjemandem zu drohen oder uns selbst zu verherrlichen, aber wir haben hier nun mal das Lêlîkan-Beispiel. Da die türkische Presse nicht darüber berichtet und die Öffentlichkeit möglicherweise im Dunkeln tappt, was unsere Erklärungen bzw. Bilanzen angeht, möchte ich unterstreichen, dass die Guerilla in Lêlîkan, Xakûrkê seit 2,5 Monaten einen gewaltigen Widerstand gegen die türkische Besatzung leistet. Die türkische Armee wurde dort regelrecht zerrüttet. Täglich geht die Guerilla gegen die Besatzer vor. In Xakûrkê werden jeden Tag Leichen von Soldaten geborgen. Sollten sie in der Tat nach Qendîl kommen, kann ich nur sagen dass es um ein vielfaches gewaltiger als in Lêlîkan sein wird.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich die jungen Menschen grüßen, die als „lebende Schutzschilde“ nach Qendîl gekommen sind. Ich wünsche ihnen viel Erfolg bei ihrer Aktion. Aus Südkurdistan hätten wir größere Reaktionen auf die Angriffe des türkischen Staates erwartet. Dennoch gibt es Menschen, die sich der Situation bewusst sind und gegen die Gefahr der türkischen Besatzung Stellung beziehen. Politiker*innen, Nichtregierungsorganisationen und die Jugend in Südkurdistan haben zwar eine Haltung angenommen, sie stellt aber noch keine wirkungsreiche Antwort auf das Besatzungsprojekt des türkischen Staates. Es besteht eine ernsthafte Bedrohung für Südkurdistan, die nicht von der PKK ausgeht. Für den faschistischen türkischen Besatzungsstaat stellt schon allein die Existenz und der Status des kurdischen Volkes eine Bedrohung dar. Sie sehen in uns eine Gefahr für ihre Zukunft. Es ist wichtig, dass die drohende Invasion als solche wahrgenommen wird und dementsprechend das Handeln dagegen zunimmt. Ich grüße all diejenigen, die sich dagegen zur Wehr setzen.“