Duran Kalkan: Die PKK ist immer noch eine Arbeiterpartei

„Abdullah Öcalan hat den Sozialismus aus den Fängen eines Systems von Macht und Staat gerettet“, erklärt Duran Kalkan im ANF-Interview zur Entwicklung der PKK, die heute zugleich eine Frauenpartei ist.

Duran Kalkan hat sich als Mitglied des Exekutivrats der PKK im ANF-Interview zur Entwicklung der Arbeiterpartei Kurdistans geäußert. Wir veröffentlichen die ausführliche Analyse in Ausschnitten:

Wir sind zweifellos eine Arbeiterpartei und gehen mit allen Fragen auf Grundlage dieses Bewusstseins um. Es wäre für uns nicht möglich gewesen, uns unter einem anderen Namen zu einer Partei zusammen zu schließen, weil 99 Prozent der kurdischen Gesellschaft zur arbeitenden Bevölkerung gehören. Wir sind aus dieser Gesellschaft hervorgegangen und haben uns zu einer Partei eben dieser Gesellschaft entwickelt. Wir sind also zur Partei aller Kurdinnen und Kurden geworden. Eine kurdische Partei zu sein bedeutet zugleich, eine Partei der arbeitenden Bevölkerung zu sein. Das kurdische Volk zeichnet sich durch die Besonderheit aus, dass praktisch alle zur arbeitenden Bevölkerung gehören. Deshalb haben wir von Anfang an die Überzeugung vertreten, dass wir eine Partei sowohl der arbeitenden Bevölkerung als auch aller Kurdinnen und Kurden sind. Letztendlich existiert in der konkreten Praxis auch kein größerer Unterschied zwischen diesen beiden Seiten. Wir sind also die Avantgardepartei einer Gesellschaft, die fast vollständig aus Mitgliedern der arbeitenden Bevölkerung besteht.

Genauso zeichnet sich unsere Partei dadurch aus, dass sie in ihrer Entstehungsphase stark von den Intellektuellen und der Jugend der kurdischen Gesellschaft geprägt wurde. Sie wurde von ihnen sozusagen hervorgebracht. In den theoretischen Schriften der Arbeiterklasse wird dargestellt, wie „das Bewusstsein der Klasse durch Intellektuelle von außen an sie herangetragen wird“. In unserem Fall war die Klasse fast die gesamte kurdische Gesellschaft. Dementsprechend bestand die Notwendigkeit, dass revolutionäre Intellektuelle von außen an die kurdische Gesellschaft herantreten und ihr Bewusstsein entwickeln.

Die Realität Kurdistans während der Entstehungsphase der PKK zeichnete sich in der Praxis dadurch aus, dass die Identität als kurdische Intellektuelle, revolutionäre Intellektuelle oder revolutionäre Jugendliche ineinander überging. Die intellektuellen Kreise und die Jugend waren so eng miteinander verbunden, dass sie auf eine ganze neue Art eine Einheit bildeten. Daher gingen die Kreise, aus denen sich die revolutionäre Führung rekrutierte, aus der intellektuellen Jugend selbst hervor. Es waren genau diese Kreise, die der kurdischen Gesellschaft, also der arbeitenden Bevölkerung, von außen ein Bewusstsein für Befreiung, Freiheit und Demokratie vermittelten. Die intellektuelle Jugend stellte die soziale Gruppe dar, aus der heraus unsere Bewegung entstand, die sich später zur Partei und Guerilla entwickelte und letztendlich zu einer Volksbewegung wurde. In diesem Sinne zeichnet sich die PKK auch dadurch aus, dass sie eine Partei der Jugend und der revolutionären Intellektuellen ist.

Wie Frauenbefreiung zur ideologischen Grundlinie wurde

Das Ziel unserer Partei war von Beginn an die nationale Befreiung der Kurdinnen und Kurden. Im Verlauf der Vertiefung unseres Verständnisses von Freiheit ging es um den Grundsatz der Freiheit von Frauen. Wir kamen zu dem Schluss, dass nationale Freiheit nur durch gesellschaftliche Freiheit und gesellschaftliche Freiheit wiederum nur durch die Freiheit der Frau erreichbar ist. So kam es dazu, dass Frauen im Zuge der Vertiefung unseres Freiheitsverständnisses eine führende Rolle übernahmen und die Frauenbefreiung zu einer ideologischen Grundlinie wurde. Als kurdische Arbeiterpartei, die unter der Führung von Intellektuellen und der Jugend entstanden war, entwickelten wir uns also zugleich zu einer Partei der Frauen. Eine Arbeiterpartei zu sein bedeutet für uns, gleichzeitig eine Partei der intellektuellen Jugend, der Frauen und der arbeitenden Bevölkerung zu sein.

Zu Beginn war unsere Partei stark vom Realsozialismus geprägt. Sie betrachtete dementsprechend alles vor dem Hintergrund von Klassenwidersprüchen und dem Klassenkampf. Auf Grundlage unseres Kampfes in Kurdistan und der Folgen, die globale Entwicklungen mit sich brachten, haben wir gewisse Veränderungen in dieser Betrachtungsweise vorgenommen.

Zweifellos kann nicht bestritten werden, dass in Gesellschaften, die unter dem System aus Macht und Staat leben, Klassen und dementsprechend Klassenwidersprüche und Klassenkampf existieren. Unsere Partei sieht diese Realität und erkennt sie an. Sie sieht, analysiert und betrachtet es als grundlegend, dass Gesellschaften aufgrund des herrschenden Systems in Klassen aufgespalten sind, aus zahlreichen Klassen und Schichten bestehen, diese Aufspaltung in Klassen unterschiedliche Interessen mit sich bringt und die verschiedenen Interessen wichtige Widersprüche und Kämpfe entstehen lassen. Vor diesem Hintergrund begreift sie ohne Zweifel die Arbeiterklasse – die am stärksten unterdrückte und ausgebeutete Klasse – und alle Schichten der arbeitenden Bevölkerung als ihre soziale Grundlage.

Nicht als unterdrückte Klasse verharren

Zugleich akzeptieren wir und betrachten es als grundlegend, dass in der Gesellschaft nicht nur ein einziger Widerspruch und Kampf stattfindet, gesellschaftliche Unterschiede sich also nicht nur aus der Klassenzugehörigkeit ergeben. Laut unserer Analyse existieren noch weitere Unterschiede, aus denen sich noch ganz andere Widersprüche und Kämpfe ergeben. Es besteht kein Zweifel daran, dass unsere Partei einen Kampf führt, der die gesellschaftliche Spaltung in Klassen, die Klassenwidersprüche und den Klassenkampf als grundlegend betrachtet. Auf dieser Basis organisieren wir uns und führen unseren Kampf. Genau deshalb verstehen wir uns als Arbeiterpartei und führen als eine solche Partei unseren Kampf. Zugleich zielen wir nicht darauf ab, für immer als unterdrückte Klasse zu verharren und einen Kampf zu führen, der die Aufspaltung der Gesellschaft in Klassen verabsolutiert, diese Spaltung fortsetzt und sich somit ausschließlich in Klassenwidersprüche und Klassenkämpfe begibt. Viel mehr geht es uns darum, parallel zur endgültigen Zerschlagung des Macht- und Staatssystems, aus dem die Klassenwidersprüche und der Klassenkampf hervorgehen, eben dieses System Stück für Stück zu verdrängen. Genau diese Realität kommt zum Ausdruck, wenn wir vom „Kampf für eine demokratische Gesellschaft“ und der „Entwicklung zu einer demokratischen Nation“ sprechen. Unsere Partei versteht und führt den Klassenkampf als einen Kampf, der auf die Auflösung der Klassen, die Verringerung von Unterschieden und die Entwicklung einer ganzheitlichen demokratischen Gesellschaft abzielt. Der demokratisch-gesellschaftliche Charakter des neuen Paradigmas steht für genau das.

Es ist richtig und wichtig, den Kampf für Sozialismus immer wieder aufs Neue zu betrachten und zu analysieren. Der Kampf für Sozialismus hat theoretische und praktische Seiten. Sozialistische Bewegungen sind nicht nur Bewegungen der Organisierung und Aktion, sondern zugleich denkende, philosophische und ideologische Bewegungen. Natürlich ist es wichtig, praktische Entwicklungen zu analysieren, wenn wir den Kampf für Sozialismus betrachten. Es gilt aber zugleich auch – und vielleicht mit einer noch höheren Priorität – den theoretischen Zustand, die Entwicklungen im Bereich der Theorie, das Sozialismusverständnis und -bewusstsein und die sozialistische Theorie genauer zu analysieren und zu diskutieren. Bereits die großen sozialistischen Vordenker brachten das zur Sprache, als sie sagten: „Ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre Praxis“ und „Ohne die Entwicklung einer richtigen sozialistischen Theorie ist ein richtiger und erfolgreicher Kampf für den Sozialismus unmöglich“.

Von Öcalan eingeläuteter Paradigmenwechsel

In diesem Zusammenhang ist es unbestreitbar, dass Abdullah Öcalan aktuell die Person ist, die sich am intensivsten mit dieser Frage auseinandersetzt und dadurch neue Ideen entwickelt, die tatsächlich umsetzbar sind. Obwohl er unter den unbeschreiblich schweren Bedingungen des Folter- und Isolationssystems auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali gefangen gehalten wird, ist es den Erschaffern eben dieses Systems nicht gelungen, ihn am Denken und Entwickeln neuer Ideen zu hindern. Abdullah Öcalan befindet sich seit mittlerweile über 22 Jahren unter widrigsten Bedingungen auf Imrali. Trotzdem ist es ihm gelungen, die heutige gesellschaftliche Realität auf der Welt, die Probleme und deren Lösungen auf umfassende, konkrete, verständliche und – auf der Basis von Organisierung – praktisch umsetzbare Art und Weise zu analysieren.

In diesem Zusammenhang lohnt es sich auf Folgendes besonders hinzuweisen: Wir sollten uns darüber bewusst sein, dass das Folter- und Isolationssystem auf Imrali nicht dafür erschaffen wurde, damit Abdullah Öcalan dort derart intensiv Überlegungen anstellt und Ideen entwickelt. Ganz im Gegenteil, der Zweck des Imrali-Systems ist es, genau das zu verhindern. Imrali wurde so konzipiert, dass Menschen in eine Lage versetzt werden, in der sie unfähig sind zu denken und Neues zu entwickeln. Diese Tatsache ist allseits bekannt und wird auch von den Erschaffern des Imrali-Systems offen ausgesprochen. Abdullah Öcalan stellt also trotz dieser Umstände derart intensive Überlegungen an und entwickelt neue Ideen. Er bezwingt und überwindet die Hindernisse und Schwierigkeiten auf Imrali, mit denen er dort wie niemand anderes konfrontiert ist. Es ist ohne Zweifel wichtig, die Entwicklung neuer Ideen durch Abdullah Öcalan auch vor diesem Hintergrund zu verstehen und zu analysieren. Wenn wir all das zusammen betrachten, können wir sehr deutlich erkennen, dass kein noch so großes Hindernis und kein noch so großer Druck verhindern können, dass Abdullah Öcalan seine Überlegungen vorantreibt und neue Ideen entwickelt.

In diesem Kontext und unter den oben beschriebenen Bedingungen hat Abdullah Öcalan einen Paradigmenwechsel eingeläutet und auf dieser Basis einen Neuanfang markiert. Er selbst bezeichnet diesen Neuanfang als seine dritte Geburt. Die Ergebnisse hat er in der fünfbändigen Verteidigungsschrift „Manifest der demokratischen Zivilisation“ umfassend dargestellt.

Wenn wir uns also mit der Lage der sozialistischen Bewegung – insbesondere dem Bereich ihrer Theorie und Überlegungen – auseinandersetzen, müssen wir zuallererst die Überlegungen aus diesem Manifest untersuchen, analysieren und zu diskutieren. Diese Bücher umfassen eine umfassende und ganzheitliche Bewertung historischer Entwicklungen, der aktuellen Situation und der existierenden Probleme. Zugleich beinhalten sie Lösungsvorschläge, die konkret und umsetzbar sind. Es ist absolut notwendig, die Ganzheitlichkeit seiner Überlegungen zu erkennen, die er selbst als „Theorie der Demokratischen Moderne“ definiert. Genauso wichtig ist es auch, diese Theorie zu untersuchen und dem neuen Paradigma Aufmerksamkeit zu schenken, das diese Theorie ermöglicht hat. Zugleich müssen wir die aktuelle gesellschaftliche Haltung und den Kampf für Sozialismus vor dem Hintergrund all dessen analysieren, um für die Zukunft neue Perspektiven, Programme für den Kampf, Pläne und Ziele zu entwickeln. All das ist zweifelsfrei Gegenstand sehr umfassender Diskussionen und Analysen. Doch an dieser Stelle können wir in aller Kürze Folgendes betonen: Abdullah Öcalan hat den Sozialismus und die Demokratie aus den Fängen des Systems von Macht und Staat gerettet.

Fortsetzung folgt