Die vergessenen Opfer des PKK-Verbots in Deutschland

Das Betätigungsverbot der PKK durch das Bundesinnenministerium am 26. November 1993 hat nicht nur zehntausende Kurden in Deutschland kriminalisiert und als „Terroristen“ stigmatisiert. Es hat auch zahlreiche Menschenleben gekostet.

Am 26. November 1993 verhängte der damalige Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) das Betätigungsverbot der Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK). Auch wenn die Geschichte der Kriminalisierung von Kurdinnen und Kurden in Deutschland nicht erst mit der Verbotsverfügung begann, bildet sie bis heute die Grundlage für die umfangreichste Repression gegen eine ausländische politische Gruppierung in der Bundesrepublik. Nahezu alle Lebensbereiche von in Deutschland lebenden Kurdinnen und Kurden sind davon betroffen. Sowohl Einzelpersonen, kurdische Vereine, Institutionen als auch Medien werden flächendeckend überwacht, eingeschüchtert und kriminalisiert, wenn sie sich nicht von ihren politischen Überzeugungen distanzieren, die das Ergebnis einer jahrzehntelangen Verleugnung und Vernichtung in ihren kurdischen Herkunftsgebieten sind. Dazu wird vom deutschen Staat das ganze Spektrum juristischer Möglichkeiten zur Anwendung gebracht.

Doch das Betätigungsverbot der PKK hat nicht nur zehntausende Kurdinnen und Kurden in Deutschland kriminalisiert und als „Terrorist*innen“ stigmatisiert. Es hat auch zahlreiche Menschenleben gekostet. Anlässlich des nun seit 27 Jahren bestehenden Verbots erinnern wir an die Menschen, welche als Resultat der deutschen „Kurdenpolitik” ihr Leben verloren haben.

Doch zunächst ein Rückblick: Als die türkische Ministerpräsidentin Tansu Çiller (DP) im Frühjahr 1994 verkündete, die PKK „auslöschen“ zu wollen, die Armee tausende Dörfer in kurdischen Provinzen zerstören ließ, den staatlichen Terror auch die politischen Repräsentant*innen der Kurdinnen und Kurden zu spüren bekamen (Aufhebung der Immunität der DEP-Abgeordneten sowie ihre anschließende Verhaftung), erreichte die „Kurdenverfolgung“ auch in Deutschland ihren Höhepunkt. Insbesondere mit dem Verbot der Feierlichkeiten zum kurdischen Neujahrsfest Newroz eskalierten hierzulande die Konfrontationen der Polizei mit Kurdinnen und Kurden. Auf Autobahnen wurde protestiert, nachdem anreisende Busse von Sicherheitskräften angehalten wurden. Dabei kam es zu heftigen Auseinandersetzungen bis hin zu Selbstverbrennungen von Demonstrierenden. Vor allem in Augsburg eskalierte die Situation, nachdem CSU-Innenminister Günther Beckstein die Stadt abriegeln und jeden Versuch der Kurd*innen, ihr Fest zu feiern, brutal angreifen ließ. Knapp 500 Personalienfeststellungen zur Einleitung von Ermittlungsverfahren waren die Folge, mindestens siebzehn Personen wurden festgenommen, viele sollten so schnell wie möglich abgeschoben werden.

Ronahî und Bêrîvan: Zwei junge Frauen, 23 und 28 Jahre alt, setzen am 21. März 1994 in Mannheim ein Fanal. Aus Protest gegen die Verbote der Newroz-Feiern in der Bundesrepublik und die Beteiligung Deutschlands am Krieg in Kurdistan übergießen sich die Kurdinnen Bedriye Taş (Ronahî) und Nilgün Yıldırım (Bêrîvan) auf der Maulbeerinsel mit Benzin und zünden sich an – beide sterben. Trotz eines Demonstrationsverbots, das Oberbürgermeister Gerhard Widder (SPD) am 25. März verhängt hatte, versammeln sich rund 10.000 Menschen zu einem Trauermarsch durch die Stadt. Mit bundesweiten Verkehrskontrollen versuchten insgesamt 32.000 Polizist*innen, anreisende Kurdinnen und Kurden abzuhalten. In Mannheim waren zwei Sondereinheiten des Bundesgrenzschutzes mit Hubschraubern im Einsatz, ein Großaufgebot von rund 2.700 Polizeieinsatzkräften aus vier Bundesländern belagerte die Stadt. Auch Wasserwerfer kamen zum Einsatz, rund 40 Personen wurden vorübergehend festgenommen. Statt die Beweggründe der Selbstanzündungen und Demonstrationen zu analysieren und über den Krieg in Kurdistan zu berichten, sprachen Politik und Medien vom „Kurdenterror“.

Bonn, 12. März 1993: Bundesweite Demonstration „Freiheit für Kurdistan“ © Archiv Aktion 3. Welt Saar

Halim Dener war 1994 als sogenannter „unbegleiteter minderjähriger Flüchtling” aus Nordkurdistan in die Region Hannover gekommen. Seine Heimat Çewlîg (türk. Bingöl) hatte er verlassen müssen, weil er aufgrund seiner kulturellen Identität und politischen Überzeugungen in Polizeihaft gefoltert und das Dorf in Dara Hênê (Genç), in dem er aufgewachsen war, während seiner Haft vom Militär zerstört wurde.

In Hannover angekommen, fand der 16-Jährige schnell Kontakt zur kurdischen Community, engagierte sich dort politisch, knüpfte aber auch Freundschaften mit deutschen Jugendlichen. Am 30. Juni 1994 klebte Halim Dener gemeinsam mit Freund*innen Plakate mit der Fahne der ERNK (Eniya Rizgariya Neteweyî ya Kurdistanê – Nationale Befreiungsfront Kurdistans) in der Innenstadt. Dabei wurde er am Steintor von einem SEK-Polizisten in Zivil getötet. Ein Schuss aus der Waffe des Beamten traf Halim aus nächster Nähe in den Rücken, wobei die genauen Umstände später nie aufgeklärt wurden. Der Polizist wurde von seinen Kolleg*innen gedeckt und die Spuren der Tat wurden verwischt, indem viel zu spät und in sich widersprüchlich dokumentiert wurde. In zwei Anläufen – das erste Verfahren war wegen Krankheit der Richter*innen abgebrochen worden – wurde der Polizist freigesprochen, weil ihm keine Fahrlässigkeit nachgewiesen werden konnte. Ohnehin war er bloß wegen fahrlässiger Tötung angeklagt worden.

Gülnaz Baghistani starb am 27. Juli 1995 in Berlin, vermutlich durch Entkräftung. Zum Zeitpunkt ihres Todes befand sich die 41-Jährige seit acht Tagen aus Solidarität mit zehntausenden hungerstreikenden PKK-Gefangenen in der Türkei im Hungerstreik. Die Aktion wurde am Tag des Todes der Kurdin gewaltsam von der Polizei angegriffen und im weiteren Verlauf aufgelöst. Die Begründung: Das PKK-Verbot. Die über 230 Personen, die sich am Hungerstreik beteiligten, wurden von der Polizei dazu gezwungen, acht Kilometer durch die brütende Hitze vom Breitscheidplatz zum kurdischen Verein nach Kreuzberg zu laufen, der sich zu diesem Zeitpunkt in der Zossener Straße befand.

Gülnaz Baghistani, eine aus Südkurdistan stammende Mutter von fünf Töchtern, hielt sich nach jahrelanger Flucht über die Türkei erst seit fünf Monaten in Deutschland auf. Die Staatsanwaltschaft verzichtete damals auf die genaue Klärung der Todesursache. Vier Tage nach dem Tod beteiligen sich über 10.000 Menschen an einem Trauermarsch, der sich unter anderem auch gegen das bis heute bestehende PKK-Verbot in Deutschland richtete.

Saarbrücken, Dezember 1993: Protest gegen PKK-Verbot und Vereinsschließungen © Archiv Aktion 3. Welt Saar

Seyfettin Kalan: Am 3. September 1995 wurde der 21-jährige Seyfettin Kalan in Neumünster bei einem Überfall türkischer Faschisten ermordet. In den Tagen vor dem Mord kam es bereits mehrmals zu Angriffen und Hetzjagden auf Kurdinnen und Kurden in verschiedenen Städten der Bundesrepublik. So wurden in Neumünster bereits am einige Tage zuvor Kurdinnen und Kurden durch die Straßen gehetzt und verprügelt. In Ulm, Bielefeld und Mühlheim wurden Brandanschläge gegen kurdische Einrichtungen verübt. Die deutsche Polizei unternahm nichts. Am 3. September gegen Abend fuhr eine Gruppe türkischer Jugendlicher beim „Kochlöffel“ in Neumünster vor. Sie griffen sofort zwei vor dem Restaurant stehende Kurden an, wobei einer der Beteiligten auf Seyfettin Kalan deutete, ihn mit seinem Namen ansprach und darauf mehrmals auf ihn schoß. Von vier weiteren Kurden, die aus dem „Kochlöffel“ zu Hilfe kommen wollten, wurden zwei durch gezielte Schüsse schwer verletzt. Wie Zeugen berichteten, waren mindestens drei der rund fünfzehn Angreifer mit Pistolen bewaffnet. Der Mörder Seyfettin Kalans, ein Faschist aus den Reihen der „Grauen Wölfe“, wurde freigesprochen. Er bekam lediglich eine Bewährungsstrafe für unerlaubten Waffenbesitz. Eine Woche nach dem Mord nahmen etwa 10.000 Menschen in Neumünster an einem Trauermarsch für Seyfettin Kana teil.

Ercan Alkaya: Am 3. Februar 1997 wurde der 25-jährige Kurde Ercan Alkaya in Kiel auf offener Straße von Fehmi Kaki, einem stadtbekannten Mitglied der „Grauen Wölfe”, durch Schüsse getötet. Ercan Alkaya war Mitglied des alevitischen Kulturvereins in Kiel und stammte aus Sêwas (Sivas), der Stadt, in der am 2. Juli 1993 ein Lynchmob ein Hotel angezündet hatte, in dem die Teilnehmenden eines alevitischen Festivals logierten. 33 Intellektuelle und Künstler*innen wurden bei dem Massaker getötet. Auch zwei Hotelangestellte kamen in dem Feuer ums Leben.

Der Ermordung von Ercan Alkaya war ein Streit in einem Café vorausgegangen. Kurdische, türkische linke und alevitische Vereine protestierten gegen den Mord, führten jeden Tag eine Mahnwache durch und veranstalteten eine große Demonstration. Sie wiesen auf geplante Attentate der türkischen Konterguerilla im Ausland und auf deren Ausstattung mit Diplomatenpässen hin und erklärten, dass sie nicht an eine „zufällige Tat” glauben.

Eser Altinok starb Anfang 1998 in einem Militärkrankenhaus in Koblenz. Der 24-Jährige hatte sich am 5. Januar in Görlitz selbst angezündet, weil er nicht länger mit seinem „Verrat an der PKK” leben wollte, nachdem er für die deutschen Justizbehörden als Kronzeuge aufgetreten war. Eser Altinok wurde 1974 in Çewlîg geboren. Noch als Kind kam er nach Berlin. Anfang der 90er Jahre wurde er wegen Autodiebstahls festgenommen und verurteilt. Auch die PKK lernte er in dieser Zeit kennen. 1992 beschloss er sich der Organisation anzuschließen. Er übernahm in den nächsten drei Jahren verschiedene Aufgaben. 1995 wurde er festgenommen, man warf ihm verschiedene kriminelle Taten aus seiner Zeit vor dem Eintritt in die PKK vor. Die deutschen Behörden entzogen ihm seine Aufenthaltserlaubnis und drohten ihm mit Abschiebung, falls er nicht mit ihnen zusammenarbeite. Sie boten ihm einen sicheren Aufenthalt, eine kosmetische Operation und Geld an. Er ging auf das Angebot ein. Seine Aussagen über die PKK wurden auf hunderten von Seiten festgehalten. Der Geheimdienst gab sich damit nicht zufrieden und forderte ihn auf, als Kronzeuge in den „Kurdenprozessen“ auszusagen, hielt jedoch weder seine Versprechen, noch ließ er ihn in Ruhe, auch kümmerte er sich nicht um seine immer stärker werdenden psychischen Probleme. Die Behandlung wurde unter polizeilicher Kontrolle durchgeführt. Als Eser Altinok es ablehnte, weiter als Kronzeuge aufzutreten, drohte man ihm den polizeilichen Schutz zu entziehen.

Bonn, 29. Mai 1993: Europaweite Kurdistan-Demonstration © Archiv Aktion 3. Welt Saar

Eser Altinok hinterließ mehrere Abschiedsbriefe, unter anderem an seine Mutter. Darin schreibt er: „Ich bin nicht hinter billigen Heldentaten her. Ich bin ein Mensch, der seine Würde zurückgewinnen möchte. Ich bin jemand, der aufgrund seiner Reue (über den Verrat) psychisch erkrankte.

Während ich mich verbrenne, bin ich sehr glücklich. Denn diesmal werde ich nicht zulassen, dass dieses Gefühl mit Beruhigungsmitteln unterdrückt wird. Wenn Du um mich weinen solltest, dann wirst Du um den Menschen weinen, der ein Jahr in Österreich für sein Volk im Gefängnis saß. Zu dieser Zeit war ich noch rein. Ich werde mit mir selbst auch den Feind verbrennen. Ich werde nicht einen Menschen, sondern eine ganze Klasse verbrennen. Ich bin ein Kurde. Ja, ich bin ein Kurde. Auch ich bin ein Kind des Feuers und der Sonne. Begrabt mich in Berlin. Ich möchte dort begraben werden. Nicht in Istanbul, und auch nicht in Bingöl. Der Platz einer Persönlichkeit, die in Berlin geprägt wurde, ist Berlin. Nieder mit dem Verrat! Es lebe der Widerstand!”

Hasan Akdağ starb am 30. Mai 1998 in der JVA Lingen, vermutlich aus Angst vor Abschiebung, an den Folgen einer Selbstverbrennungsaktion. Der Kurde war am 18. Dezember 1977 in Çermik bei Amed geboren worden und war der älteste von sieben Geschwistern. Der Familie ging es wirtschaftlich gut, jedoch hatte Hasan viele Widersprüche gegenüber seinem Vater. Daher ging er mit 15 Jahren nach Izmir, um dort zu arbeiten. Im Dezember 1996 kam er nach Deutschland, um dem Militärdienst und seinem Vater zu entfliehen. Wie auch schon in der Türkei begann er sich im kriminellen und Drogenmilieu zu bewegen und war bald polizeibekannt, wurde wegen Rauschgifthandel mehrmals festgenommen. An Newroz 1997 jedoch lernte er Aktivist*innen der PKK kennen, wenige Monate später stand sein Entschluss fest, sich der Bewegung anzuschließen. In seinem Abschiedsbrief schrieb er: „Die PKK hat mich ins Leben zurückgeholt. Vorher bestand mein Leben nur aus Drogen und Kriminalität. Die PKK hat mehr Arbeit und Kraft in mich gesteckt, als meine Familie. Diese Liebe und Kraft kannte ich vorher nicht.“ In der JVA Lingen übergoss er seine Füße mit Benzin, umwickelte seine Beine mit Plastiktüten, zog sich einen leicht entflammbaren Trainingsanzug an und zündete sich an. Es dauerte 40 Minuten, bis Rettungskräfte die Tür zu seiner Zelle öffnen konnten, solange blieb Hasan Akdağ bei Bewusstsein. Mit dem Rettungshubschrauber wurde er nach Hannover gebracht, wo er abends starb.

Cebeli Haco starb am 14. Juli 1998 in Bochum. Er verbrannte sich selbst aus Protest gegen die Haltung des deutschen Staates gegenüber dem kurdischen Befreiungskampf. Cebeli Haco stammte aus Südkurdistan, von dort war er vor dem Krieg geflohen. Hier in Deutschland war er anerkannter Asylberechtigter. Sein Protest sollte sich insbesondere gegen das Verhalten der deutschen Polizei und Justiz gegenüber den Menschen aus Kurdistan richten, sowie die enge Zusammenarbeit mit den Besatzungsmächten Kurdistans.

Cembeli Haco wählte den 14. Juli für seine Selbstverbrennungsaktion, um die Verbundenheit mit den Gefallenen der kurdischen Revolution zum Ausdruck zu bringen. „Der 14. Juli symbolisiert den Widerstand. Mit meiner Aktion will ich meine Verbundenheit mit den Gefallenen des 14. Juli zum Ausdruck bringen“, schrieb er in seinem Abschiedsbrief. „Ich weiß, mein Tod wird meiner Familie großen Kummer bereiten, aber ich rufe alle auf, wo immer sie sind, sich am Kampf des Volkes zu beteiligen“.

Saarbrücken, 21. März 1993: Newroz-Demonstration © Archiv Aktion 3. Welt Saar

Der kurdische Sänger Barzan Öztürk (Murat) starb am 4. Januar 1999 in Koblenz an den Folgen schwerer Verbrennungen. Er hatte sich am 1. November 1998 in der JVA Stuttgart-Stammheim angezündet und war mit Verbrennungen dritten Grades von 80 Prozent seiner Haut ins Bundeswehrkrankenhaus Koblenz eingeliefert worden. Barzan Öztürk war 23 Jahre jung. Er wurde in Agirî (Ağrı) in Nordkurdistan geboren und kam aus einer traditionsreichen Familie, deren Mitglieder sich schon an mehreren kurdischen Aufständen beteiligten - 14 Mitglieder der Familie sind im Kampf gefallen, darunter auch sein Vater und mehrere Geschwister. Andere gerieten in politische Geiselhaft oder mussten ins Exil.

Am 6. Januar kamen tausende Kurdinnen und Kurden nach Stuttgart vor die JVA in Stammheim, um Barzan Öztürk die letzte Ehre zu erweisen und sich zu verabschieden. Barzan Öztürk war am 21. August 1998 in Kleve an der holländischen Grenze mit ungültigen Papieren festgenommen und anschließend inhaftiert worden. Am 24. Oktober 1998 wurde ihm in Stuttgart der Prozess gemacht. Er erhielt eine achtmonatige Strafe, die auf Bewährung ausgesetzt wurde. Anstatt als freier Mann den Gerichtssaal verlassen zu können, wurde er wegen „fehlender Aufenthaltsberechtigung“ sofort in Abschiebehaft genommen. Sein erster Asylantrag war in Freiburg abgelehnt worden. Ein Asylnachfolgeantrag, den er sofort nach seiner Festnahme gestellt hatte, war nicht behandelt worden. Ein neuer Asylnachfolgeantrag wurde nach der Verurteilung gestellt. Dass seine Anwälte einen Abschiebestopp durchgesetzt hatten, erreichte Barzan nicht, da sie nicht zu ihm gelassen wurden.

Barzan Öztürk legte seine Beweggründe für die Selbstverbrennung in einem Brief dar. Daraus geht hervor, dass er sich aus Protest gegen die Unterdrückung des kurdischen Volkes und den schmutzigen Krieg in Kurdistan, aus Protest gegen das versuchte Attentat auf den PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan am 9. Oktober 1998 sowie aus Solidarität mit den Selbstverbrennungsaktionen vieler PKK-Kriegsgefangener in türkischen Gefängnissen anzündete. Im selben Jahr zu Newroz hatte sich schon eine Verwandte von ihm, Sema Yüce in der Türkei selbst verbrannt. Barzan Öztürk hatte in der Türkei schon ein Jahr im Gefängnis gesessen, war dann aktiv am Befreiungskampf beteiligt und nach einer Verletzung nach Europa gekommen. Sein Leichnam wurde am 8. Januar 1999 in die Türkei überführt, eine Delegation begleitete den Sarg.

Sema Alp, Ahmet Acar, Mustafa Karakurt, Sinan Karakuş wurden am 17. Februar 1999 in Berlin von Sicherheitsbeamten des israelischen Generalkonsulats erschossen. Der Vierfachmord ereignete sich zwei Tage nach der völkerrechtswidrigen Verschleppung Abdullah Öcalans aus Kenia in die Türkei. Vor der Botschaft wurde gegen die Beteiligung Israels am Komplott gegen den PKK-Gründer protestiert. Bei der Aktion vor dem Botschaftsgelände im Berliner Stadtteil Schmargendorf eröffneten zwei Sicherheitsbedienstete das Feuer aus der geöffneten Tür des Konsulats auf die Demonstrant*innen im Vorgarten und auf der Eingangstreppe. Bis zu 30 Schüsse wurden abgegeben. Sema Alp, Mustafa Kurt, Ahmet Acar und Sinan Karakuş wurden getötet, andere durch die Kugeln der israelischen Sicherheitsbeamten zum Teil schwer verletzt. Die Überlebenden wurden später vor ein deutsches Gericht gestellt: Jugendliche wurden zu Sozialstunden verurteilt, Erwachsene erhielten neben Freisprüchen Bewährungsstrafen von bis zu zwei Jahren wegen Landfriedensbruchs und sollten sogar abgeschoben werden. Erst mit einem Urteil des Verwaltungsgerichts konnten die Ausweisungen gestoppt werden. Die Todesschützen hingegen wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Stattdessen flog man sie schnell nach Israel aus, weil sie diplomatische Immunität genossen.

Saarbrücken, 28. Mai 1994: Spontane Demo nach GSG9-Überfall auf Kurdischen Kulturverein © Archiv Aktion 3. Welt Saar

Sema Alp war 18 Jahre jung und stammte aus Êlih (Batman). Dort lebte ihre Familie seit Generationen – bis der Ort Anfang der 90er Jahre vom türkischen Militär dem Erdboden gleichgemacht wurde. Sema hat die Zerstörung ihres Dorfes miterlebt. Semas Mutter zog mit ihren jüngeren Kindern in die benachbarte Provinz Sêrt (Siirt), nach Misirc (Kurtalan) – ebenfalls ein Ort im militärischen Belagerungszustand. Der Vater lebte zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehr als 20 Jahren in Berlin, wo er in einer Spinnerei arbeitete. Das Geld, das er nach Misirc schickte, wurde dringend benötigt, um das Auskommen der Familie zu sichern. Sema selbst kannte ihren Vater nur von den kurzen Urlaubsbesuchen, die er bei seiner Familie verbrachte. Mitte der 90er Jahre holte der Vater seine Familie nach Berlin.

Sema kannte, bevor sie nach Berlin kam, nur das Leben in einem kurdischen Dorf, mit seinen traditionellen Formen. Als sie im Alter von 14 Jahren nach Berlin kam, fiel sie auch hier aus dem klassischen Bildungsweg heraus. Lesen und Schreiben lernte sie erst an der Volkshochschule. Sie war ein eher zurückhaltendes Mädchen, das lieber bei ihrer Mutter blieb, als aus dem Haus zu gehen. Am 17. Februar 1999 ging sie mit ihrer 15-jährigen Schwester Emine zum kurdischen Verein. Von dort aus fuhren Autos zum israelischen Generalkonsulat, die beiden jungen Frauen fuhren mit. Vor dem Konsulat wurde Sema, als sie weglief, aus größerer Entfernung in den Hinterkopf sowie in den Rücken geschossen. Emine sah, wie ihre Schwester abtransportiert wurde. Später verlor sie wegen der Teilnahme an der Demonstration ihre unbefristete Aufenthaltsgenehmigung und ihren Ausbildungsplatz als Krankenschwester. Sie musste vor Gericht erscheinen, während die israelischen Wachleute unbehelligt blieben.

Ahmet Acar war 24 Jahre jung und kam aus Riha (Urfa). Er war sechs Jahre zuvor nach Berlin gekommen und wohnte zuletzt mit seiner Frau in Steglitz.

Mustafa Karakurt war 29 Jahre jung, er stammte ebenfalls aus Riha, war erst vor einem Monat aus dem Saarland nach Berlin gezogen

Sinan Karakuş war 26 Jahre alt und wurde in Sêwreg (Siverek) geboren. Er lebte seit eineinhalb Jahren bei Verwandten in Berlin, hatte jedoch keinen Aufenthaltstatus für Deutschland. Sinan Karakuş starb an den Folgen eines Kopfschusses.

Hamza Polat starb am 8. März 2000 in Berlin. Er setzte sich vor dem Reichstag in Brand, „weil er die Spitzelanwerbung durch die deutsche Polizei und das türkische Konsulat nicht mehr ertragen hat“ (Hamza Polats Vater). Hamza Polat war 28 Jahre alt und lebte in Augsburg. Begonnen hatte die Repression gegen ihn nach den Newroz-Feiern im Jahr 1994. Ein Sohn der Familie wurde aus verschiedenen Gründen zu einer 27-monatigen Gefängnisstrafe verurteilt. Der türkische Staat hatte den Pass des Sohnes beschlagnahmt und die deutschen Behörden die Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert. Die Familie geriet ins Fadenkreuz deutscher und türkischer Behörden. Im Generalkonsulat in München wurden in Gegenwart eines Agenten des türkischen Geheimdienstes MIT Angebote für Spitzeltätigkeiten gemacht. Diese reichten von Geldbeträgen bis über die Bereitstellung eines Diplomatenpasses mit beliebigem Namen.

Hamza Polats Vater erklärte damals: „Mein Sohn hat sich angezündet, weil er die Spitzelanwerbungen durch die deutsche Polizei und das türkische Konsulat nicht mehr ertragen hat. Man hat den Pass meines Sohnes beschlagnahmt, nachdem er sich geweigert hatte, für sie als Spitzel zu arbeiten. Wenn mein Sohn das Haus verließ, wurde er jedes Mal von der Polizei in Gewahrsam genommen. Er hat sich getötet, weil er die sechs Jahre andauernden Versuche genauso wenig ertrug wie den auf ihn ausgeübten Druck.“ Auch ihn habe die Polizei versucht als Spitzel anzuwerben. Die Familie beerdigte Hamza Polat in Wuppertal. Sein Vater sagte dazu: „Ich möchte den Leichnam nicht in die Türkei bringen. Wenn Kurdistan geschaffen wird, werde ich die Knochen meines Sohnes nehmen und in unser Land bringen.“ YEK-KOM, die Föderation Kurdischer Vereine in Deutschland e.V., erklärte zum Tod von Hamza Polat: „Die Wahl des Ortes seiner Selbstverbrennung, das bundesdeutsche Parlamentsgebäude, weist darauf hin, dass er damit vor allem die deutschen Politiker*innen anklagen wollte, die solche Praktiken durch Gesetze decken.“ Auch eine Aussage seiner Mutter wies in diese Richtung: Sie machte in erster Linie den deutschen Staat für den Tod ihres Sohnes verantwortlich und erklärte, die Familie habe versucht, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in dieser Sache einzuschalten, es habe sich jedoch kein Rechtsanwalt für ein solches Verfahren bereit gefunden.