1990er Jahre: Neue Phase der Eskalation im Krieg gegen die PKK

In der ersten Hälfte der 1990er Jahre bot Abdullah Öcalan der Türkei zwei wichtige Waffenstillstände an. Die Regierung in Ankara lehnte es ab, zu verhandeln, und ließ den Krieg in Kurdistan eskalieren.

Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 sollte eine Kettenreaktion in Gang setzen, die erhebliche Folgen für die Ostblockstaaten haben würde. Denn wie in einem Dominoeffekt wurde das System des Eisernen Vorgangs gestürzt. Während sich mit der Auflösung der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten die geopolitische Lage in Europa grundlegend änderte, wehte in Kurdistan ein Wind der Freiheit, der im Norden die Serhildan und im Süden die Raperîn beeinflussen sollte. Doch die neue Weltordnung nach dem Zerfall des Ostblocks billigte keine willensfreien Völker und ihre Protagonisten. Abdullah Öcalan sah die künftigen Geschehnisse in der Region und anderen Teilen der Welt voraus und richtete in der ersten Hälfte der 1990er Jahre seinen Energiefluss auf die politische Lösung der kurdischen Frage in einem Dialog und auf die Etablierung einer innerkurdischen Einheit.

Erstes Treffen mit Celal Talabanî

Als ersten Schritt in diese Richtung kam Abdullah Öcalan am 4. Januar 1991 mit dem Vorsitzenden der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) Celal Talabanî (1933-2017) zusammen. Das Hauptanliegen der Agenda Öcalans, der sich damals auch mit dem Kopf der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) Mesûd Barzanî traf, bestand in der Gründung eines Bündnisses der kurdischen Kräfte. Talabanî, der später zu den engsten Freunden Öcalans zählen sollte, sagte bei dieser Begegnung: „Wir sind hier, um offen alle Themen zu diskutieren, die wir ansprechen wollen. Als Kurdistan-Front des Irak schätzen wir den Widerstand der PKK. Wir haben eine Lehre aus der Geschichte gezogen: Je enger das Verhältnis der kurdischen Kräfte ist und je stärker ihr Dialog und Bündnis, desto stabiler wird sich der Kampf der kurdischen Nation entwickeln. Je mehr die kurdischen Kräfte miteinander kollidieren, desto höher wird der Schaden ausfallen, den der Widerstand erleiden wird.“

Die mahnenden Worte Abdullah Öcalans bei diesem Treffen sollten in die Geschichte eingehen: „Vor zehn Jahren wollten wir Beziehungen mit den kurdischen Parteien im Süden knüpfen und uns näherkommen. Doch eine Reihe von Hindernissen stand dem Marsch der Einheit von Parteien aus dem Norden und Süden im Weg. Aus diesem Grund hielten wir immer wieder an. Ab jetzt sollten wir uns darauf konzentrieren, in welchen Punkten wir eine Einigung erzielen können.“

Volksversammlung im PKK-Camp, Bekaa-Ebene/Libanon © Serxwebûn/ANF

Die dunklen Tage: Der Südkrieg

Öcalan deutete bei diesem Gespräch auf die Schwierigkeiten einer kurdischen Einheit hin. Er war achtsam vorgegangen, da er die bevorstehende Gefahr verspürt hatte. Seine Prognose sollte sich bereits ein Jahr später bewahrheiten. Als regionale und globale Akteure 1992 einem föderalen System in Südkurdistan grünes Licht gaben, allen voran der türkische Staat, wurde als Gegendienst von der YNK und PDK ein gemeinsamer Krieg gegen die PKK gefordert. Die „dunklen Tage“ der jüngeren kurdischen Geschichte standen bevor. Als das kurdische Parlament am 4. Oktober 1992 in seiner Sitzung die Autonome Region Kurdistan proklamierte, wurden zwei richtungsweisende Entscheidungen über die Beziehungen zur irakischen Zentralregierung in Bagdad und zum Krieg gegen die PKK getroffen.

Bêrîtan stürzt sich von einem Felsen

In der Folge zogen die Kräfte Südkurdistans an der Seite der türkischen Armee in den Krieg gegen die PKK-Guerilla. Das Ziel bestand darin, die kurdische Guerilla vor allem aus den Regionen Heftanîn, Zap und Xakurke herauszureißen. Doch das in der Geschichte Kurdistans immer wiederkehrende Phänomen, bei dem Verrat und Widerstand stets parallel zueinanderstehen, sollte auch hier zum Vorschein treten. Es war der 25. Oktober 1992, als die Guerillakommandantin Bêrîtan (bürgerlich Gülnaz Karataş) sich von einem Felsen in den Tod stürzte, um einer Ergreifung zu entgehen. Peschmerga der PDK hatten ihre Gipfelstellung umzingelt und sie aufgefordert, sich zu ergeben. Bêrîtan weigerte sich und kämpfte bis zu ihrer letzen Kugel. Dieser Vorfall markiert den Wendepunkt der Phase im Jahr 1992, die als „Südkrieg“ bekannt werden sollte.

Gülnaz Karataş alias Bêrîtan (Mitte), 1991, Çiyayê Cûdî/Bakur © Serxwebûn/ANF

Talabanî vermittelt zwischen Özal und Öcalan

Nach dem 45 Tage andauernden Krieg erzielte die PKK eine Einigung mit den südkurdischen Kräften. Auf Initiative des damaligen türkischen Staatspräsidenten Turgut Özal wurde daraufhin ein ständiger Austausch mit Abdullah Öcalan gepflegt, den als Unterhändler der YNK-Vorsitzende Celal Talabanî aufrechterhielt. Hinter den Kulissen in Ankara beherrschte eine mögliche Entschärfung des Konflikts die Agenda der türkischen Hauptstadt. Als erste Reaktion sagte Süleyman Demirel, der damalige Ministerpräsident der Türkei: „Der Staat verhandelt nicht mit denjenigen, die Blut vergießen. Es ist nicht der Staat, der Blut vergießt. Sie sollten sich ergeben. Ergebt euch der Justiz und der Gerechtigkeit.“

Der erste Waffenstillstand

Trotz der geteilten Meinung, die mögliche Friedensverhandlungen in Ankara hervorriefen, machte Abdullah Öcalan am 19. März 1993 einen historischen Schritt in diese Richtung. In der libanesischen Stadt Barelias, die in der Bekaa-Ebene liegt, erklärte er vor Journalisten, dass beginnend mit dem 21. März ein einseitiger Waffenstillstand ins Leben gerufen werde, der bis zum 15. April andauern solle. Öcalans friedlich ausgestreckte Hand blieb in der Luft hängen – Ankara ließ die Zeit ungenutzt verstreichen. Kurz vor Ablauf der Frist bestellte Özal erneut Talabanî in sein Amt. Der türkische Staatspräsident bat um eine Verlängerung des Waffenstillstands.

Verlängerung der Waffenruhe und plötzlicher Tod Özals

Am 16. April 1993 verkündete Abdullah Öcalan die Verlängerung der Waffenruhe auf unbestimmte Zeit. Neben Celal Talabanî waren diesmal weitere bekannte Persönlichkeiten aus der kurdischen Politik bei der Pressekonferenz anwesend, darunter auch der PSK-Vorsitzende Kemal Burkay sowie Ahmet Türk. Keine 24 Stunden später vermeldeten türkische Agenturen am 17. April den plötzlichen Tod Turgut Özals. Als Ursache wurde offiziell Herzversagen angegeben. Damit wurde eine neue Seite in der noch jungen Geschichte der Türkei und der kurdischen Befreiungsbewegung aufgeschlagen.

Talabanî, Öcalan, Burkay (v.l.n.r.), rechts hinten: Riza Altun, Barelias/Libanon © Serxwebûn/ANF

„Kriegskabinett” zieht Strippen in Ankara

Nach dem Tod von Turgut Özal wechselte der türkische Staat gewissermaßen seinen Besitzer. Am 24. Mai 1993 wurden bei Çewlîg (türk. Bingöl) in Nordkurdistan 33 türkische Soldaten unter der Führung von Şemdin Sakık erschossen. Abdullah Öcalan deutete an, dass er Özals Tod und den Vorfall in Çewlîg für Provokationen von einer großen Tragweite halte. Offenbar sollte der von der PKK ausgerufene Waffenstillstand unterminiert und der Konflikt verschärft werden. Süleyman Demirel hatte inzwischen das Amt von Özal übernommen, die Regierung bildete das Kabinett Çiller I mit Ministerpräsidentin Tansu Çiller an der Spitze. Mehmet Ağar hatte den Posten des Generalpolizeipräsidenten der Türkei inne, der Chef des Generalstabes war Doğan Güreş. Am 2. Juli 1993 ereignete sich in Sêwas (Sivas) das Madimak-Pogrom. Ein aufgehetzter Lynchmob hatte ein Hotel angezündet, in dem Teilnehmende eines alevitischen Festivals logierten. 33 Intellektuelle und zwei Hotelmitarbeiter kamen in den Flammen ums Leben.

Abdullah Öcalan erkannte die Pläne des sogenannten Kriegskabinetts, das fortan die Strippen in Ankara ziehen sollte, und verkündete am 8. Juni 1993 das Ende des Waffenstillstands. In der Folgezeit sollte nicht nur jede von ihm zum Friedensschluss ausgestreckte Hand unergriffen bleiben, sondern auch kriegerische Vernichtungsstrategien in Kurdistan Gang gesetzt werden. Bis 1995 marschierte die türkische Armee mehrmals in Südkurdistan ein, um den Krieg mithilfe der PDK eskalieren zu lassen. Ziel der Angriffe war die Zerstörung der PKK-Camps. Am 11. Juli 1995 fand ein Treffen zwischen Abgesandten der PDK und YNK in der Nähe von Dublin unter der Aufsicht von amerikanischen, britischen und türkischen Vertretern statt. Zu den Einigungen in einer Reihe strittiger Fragen zählte unter anderem die Zerschlagung der von der PKK angeführten kurdischen Befreiungsbewegung. Bereits nach einer Weile sollte es wieder Zusammenstöße zwischen Peschmergakräften der PDK und der PKK-Guerilla geben, die diesmal drei Monate andauerten.

„Dêriyê Serkeftinê“ (deut. Das Tor zum Erfolg) - Eingang zum PKK-Camp, Bekaa-Ebene © Serxwebûn/ANF

Zweite Waffenruhe mit der Türkei

Die die PKK betreffenden Entwicklungen im Jahr 1995 beschränkten sich aber nicht nur auf diese Ereignisse. Im Vorfeld der Parlamentswahlen am 24. Dezember 1995 in der Türkei traten Unterhändler der Regierung mit der Forderung nach einer Waffenruhe an Abdullah Öcalan heran. Die letzten zwei Jahre waren geprägt von einem erbitterten Krieg. Um den Weg für Verhandlungen zu ebnen, rief Öcalan am 15. Dezember live bei Med TV den zweiten einseitigen Waffenstillstand mit der Türkei aus. Die Entscheidung erfolgte im Grunde in Reaktion auf eine Resolution des EU-Parlaments vom 13. Dezember, in der eine politische Lösung der kurdischen Frage gefordert wurde. Die Türkei kam zu diesem Zeitpunkt international wegen ihrer „Kurdenpolitik” unter Druck. Das Parlament begrüßte ausdrücklich den Waffenstillstand der PKK und forderte die türkische Seite auf, diesen als Chance für einen Dialog zur Lösung des Problems zu nutzen. Doch nur wenige Wochen nach den Parlamentswahlen sollte das Regime in Ankara mit einem Massaker auf die Waffenruhe antworten.

Massaker von Basan

Am 16. Januar 1996 wurde ein ziviler Kleinbus bei Basan (Güçlükonak) in der Provinz Şirnex (Şırnak) von Unbekannten zuerst beschossen und anschließend die Leichen der elf Insassen – Bauern aus der Umgebung – verbrannt. Der Generalstab und die Regierung beschuldigten sofort kurdische Guerillakämpfer, während die PKK das Massaker als „Provokation durch staatliche Kontergruppen” verurteilte. Zwei Tage nach dem Vorfall in Basan stand die kurdische Frage erneut auf der Tagesordnung des Europäischen Parlaments. Doch unter Verweis auf das angeblich von der PKK begangene Massaker konnte die Regierung von Ministerpräsidentin Çiller den Krieg in den kurdischen Landesteilen mit unverminderter Härte fortführen. Es sollte jedoch nicht lange dauern, bis bekannt wurde, dass Todesschwadronen des JITEM, dem inoffiziellen Geheimdienst der türkischen Militärpolizei, das Massaker an elf Zivilisten verübt hatten. Erste Zweifel an dem offiziellen Tathergang hatte vor allem die Tatsache hervorgerufen, dass die Personalausweise der verbrannten Opfer unbeschädigt von der Militärpolizei präsentiert wurden.

Anschlag in Damaskus

Eine weitere Antwort des türkischen Staates auf den zweiten Waffenstillstand der PKK war parallel zur Eskalation des Krieges in Kurdistan ein Bombenanschlag in der syrischen Hauptstadt Damaskus, der Abdullah Öcalan galt. Am 6. Mai 1996 detonierte ein mit einer halben Tonne C4 präpariertes Fahrzeug in einem Vorort von Damaskus und entlaubte in der Nähe von Öcalans Unterkunft die Bäume im Umkreis eines halben Kilometers. Der PKK-Gründer überlebte dieses vom türkischen Geheimdienst (MIT) mit der Zustimmung Tansu Çillers geplante und ausgeführte Attentat unverletzt. Noch am selben Abend sagte er bei einer Liveschaltung in eine Sendung bei Med TV: „Während wir von Frieden und Geschwisterlichkeit sprechen, sagen, lasst uns diesen Krieg beenden, bekommen wir Bomben.“

Nach dem Attentatsvesuch auf Abdullah Öcalan sollte der türkische Staat wieder den Dialog zur PKK suchen. Die vorsichtigen Kontakte hatte Ministerpräsident Necmettin Erbakan, der sein Kabinett ab dem 28. Juni 1996 leitete und unter dem Eindruck des postmodernen Staatsstreichs vom 28. Februar 1997 zurücktreten musste, durch Vermittler initiiert. Als Gunstbeweis ließ die PKK eine Gruppe türkischer Soldaten frei, die in der Zap-Region aufgegriffen worden waren.

Verabschiedung von Gästen, Zentrale Parteischule der PKK in Damaskus/Syrien © Serxwebûn/ANF

Anfänge des Komplotts 

Mit den Strukturen des tiefen Staates der Türkei kooperierende internationale Kräfte waren jedoch entschlossen, ein Komplott gegen Abdullah Öcalan zu schmieden. Am 9. April 1996 hielten der damalige griechische Premierminister Konstantinos Simitis und US-Präsident Bill Clinton ein geheimes Treffen im Weißen Haus in Washington ab. Bei der Zusammenkunft verpflichtete sich Simitis der Kooperation für die Liquidierung Öcalans und gelobte, die Regionalpolitik der Amerikaner zu unterstützen. Griechenland wollte im Gegenzug für Öcalan Zugeständnisse der Türkei in der Zypernfrage und den Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Ägäischen Meer.

Im „Plädoyer für den freien Menschen” nahm Abdullah Öcalan 2003 ein kurioses Strafverfahren in Athen wegen der vermeintlich „illegalen Einreise und der Zuwiderhandlung gegen griechische Nationalinteressen” zum Anlass, sich in seiner Eingabe an das Gericht zur Fundamentlegung des Komplotts gegen ihn zu äußern und seine Vision einer demokratisch-ökologischen Gesellschaft zu formulieren:

Das Komplott gegen mich in Europa, speziell in Athen, richtete sich weder zufällig gegen eine ganz gewöhnliche Person, noch lief es so ab, wie es der Staatsanwalt meisterhaft und bis ins kleinste Detail „aufzuklären“ versucht hat. Obwohl das ganz klar auf der Hand liegt, ist es doch von historischer Bedeutung und durchaus lohnend, es richtig zu verstehen und zu interpretieren. Wenn dies alles nur meine Person beträfe, hätte ich es nicht für nötig erachtet, eine derart umfangreiche Verteidigung zu verfassen. Jedoch sollten in meiner Person ein Volk und seine Freunde für dumm verkauft und so ihr Freiheitsstreben, Summe immenser Anstrengungen, gewissen Interessen geopfert werden. Zweifellos wäre es nicht richtig, die Verantwortung für Verschwörung und Verrat nur bei der Athener Oligarchie zu suchen. Viele Seiten waren beteiligt. Es ist durchaus wichtig, sie, wenn auch nur knapp, zu benennen und zu charakterisieren. Von den Kalkulationen der USA bis zu denen der EU, der Haltung mancher arabischer Staaten bis hin zu Israels und Russlands Interessen hatten viele politische Mächte auf Staatsebene ihre Hand im Spiel. Wenn man nach dem „warum?“ fragt, liegt die Antwort zweifellos in der Schwäche des kurdischen Faktors und daran, dass das kurdische Problem leicht simplen Spekulationen geopfert werden kann. Durch die gesamte Geschichte hindurch konnten die über die Kurden herrschenden Mächte inklusive der kollaborierenden herrschenden Schichten dieses Volk und dieses Land benutzen, wie immer sie wollten, ohne viel dafür zu belangt zu werden. Es gab nie eine aufgeklärte politische Kraft, die dafür Rechenschaft verlangt hätte. Wer versuchte, etwas zu bewirken und dabei seine Ehre zu bewahren, endete in der Katastrophe, und später verlangte wieder niemand Rechenschaft dafür. Ein passendes Sprichwort besagt, dass der Kurde immer der Gelackmeierte ist. Dies beschreibt geradezu eine Verhaltensregel.

Auch wenn der Vergleich schmerzen mag, muss ich dennoch sagen, dass es selbst beim Betreiben eines Bordells eine Handels- und Überlebenslogik in den Beziehungen zwischen Chef, Wachmann und den beschäftigten Sklavinnen gibt. Jeder weiß mehr oder weniger, was er oder sie tut. Indem sie sich völlig einer Philosophie des Schicksals unterwerfen, tun sie, was sie tun müssen und sorgen so für den Weiterbestand des Systems.

Kurdistan und die kurdische Gesellschaft wurden Schauplatz für rückständigere und unmenschlichere Raubsysteme als sie bei Ali Baba und den 40 Räubern beschrieben sind. Niemand legte vernünftig Rechenschaft ab, niemand forderte sie ein. Das kurdische Individuum – soweit man hier überhaupt von einem Individuum sprechen kann –, welches vielfach Verrat und Entfremdung erlebt, war von den Kollaborateuren an der Spitze bis zu denen ganz unten in der Position von krasser Ignoranz, schwätzerischer Besserwisserei oder bewussten Verrats sich selbst gegenüber. Für ein Huhn oder einen Hund schoss man einen Menschen über den Haufen. Niemand kümmerte sich um die kulturellen Werte, die in 15 000 Jahren geschaffen wurden. Dabei handelt es sich um eines der ältesten Völker der Menschheit, Hauptakteur der ersten großen Revolution der Menschheit, der neolithischen Revolution. Das ist das Kuriose und die Ironie des Ganzen. In dieser Tatsache liegen Fluch, Brutalität, Lüge und Rückständigkeit verborgen.

Mein Aufbruch und die Tatsache, dass eine Freiheitsbewegung im allgemeinen Sinne tatsächlich existieren konnte, brachte dieses Bild vollkommen ins Wanken. Von den Kollaborateuren bis zu den Staaten mit ihren strategischen Interessen trafen sich alle, um mit Gegenmaßnahmen darauf zu reagieren. Die 90er Jahre wurden Zeugen dieser intensiven Anstrengungen. Insbesondere die USA, die EU, Russland und die Länder des Mittleren Ostens befassten sich ausgiebig damit. Dass ich mich nicht wie eine simple Puppe benutzen ließ, trieb jedes dieser Machtzentren dazu, gemäß den eigenen Interessen eine eigene PKKund Kurdenpolitik zu entwickeln. Als sie verstanden, welch großes Hindernis ich für die jeweilige Politik darstellte, planten sie, mich zu isolieren und nach und nach zu liquidieren. Auf die Garantie minimaler Menschenrechte und auf jegliche demokratische Vorgehensweise wurde dabei verzichtet. Um ihren kurdischen Kollaborateuren Raum zu geben, planten sie die offene und verdeckte Zusammenarbeit. Die irakisch-kurdischen Kollaborateure und türkische, US-amerikanische und britische Vertreter brachten es über die Achse Ankara-LondonWashington bis zu einem offi ziellen Abkommen. Um es erfolgreich umzusetzen, versuchten sie, die EU zu neutralisieren und die Athener Oligarchie als Helfershelferin zu benutzen. Auf dieser Grundlage, mit dieser Philosophie und durch diese Politik entwickelte sich das Komplott. Wenn es uns nicht gelingt, die gegen mich und das kurdische Volk und seine Freunde gerichtete Verschwörung und den Verrat in einen großen Kampf um unsere Würde zu verwandeln, hieße das, dass diese unselige Geschichte ein weiteres Mal ihr Urteil vollstreckt hätte. Dabei haben sich allein im Zusammenhang mit meiner Auslieferung über hundert geliebte Genossen, junge Frauen und Männer öffentlich verbrannt, fielen Kugeln zum Opfer, wurden gedemütigt, geprügelt und verhaftet. Schon allein wegen des Gedenkens an sie steht für mich die Notwendigkeit außer Frage, das Ereignis ausführlich zu analysieren. Darüber hinaus ist es ein zentrales Anliegen des revolutionären Freiheitskampfes, eine Wiederholung der fluchbeladenen Geschichte zu verhindern. Diesen Auftrag erfolgreich erfüllen, heißt, mittels eines historischen Bruchs von der verfluchten Knechtschaft zur Freiheit zu gelangen. (Abdullah Öcalan: Plädoyer für den freien Menschen. Neuss, Mezopotamien-Verlag, Hrsg. Internationale Initiative „Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan“, 2005, S. 49-51)

Öcalan erteilt Unterricht, Bekaa-Ebene © Serxwebûn/ANF


Nächster Teil: *Friedensaufruf vom 1. September 1998 und die Phase bis zum 9. Oktober 1998, dem Beginn des internationalen Komplotts gegen Abdullah Öcalan