Der Krieg in Efrîn und die deutsche Ignoranz

Seit dem 20. Januar ist kein einziger Tag vergangen, an dem kurdische Aktivist*innen und Linke auf der ganzen Welt nicht auf den Straßen gewesen sind, um gegen die Angriffe der türkischen Armee in Efrîn (Nordsyrien/Westkurdistan) zu protestieren.

Das, was Erdoğan und seine gleichgeschaltete Presse als „Krieg gegen Terrorismus“ definieren, um sich selbst als Helden der Demokratie zu inszenieren, ist alles andere als ein Krieg gegen Terrorismus. Das müsste eigentlich jedem Menschen klar sein, der sich in den letzten Jahren auch nur ansatzweise mit dem Krieg in Syrien und dem demokratischen Projekt der Menschen in Rojava (Nordsyrien) beschäftigt hat.

Feindbilder für Erdoğans Machterhalt

Efrîn war seit Beginn des Krieges eine Region, die vom Krieg vergleichsweise verschont geblieben ist und in der die dortige Bevölkerung in Frieden versuchen konnte, basisdemokratische Rätestrukturen, Akademien, Kooperativen und Dörfer zu errichten. Ohne jegliche Grundlage versuchte die türkische Regierung in den letzten Monaten ein Feindbild zu erschaffen, um ihre Angriffe auf Kurd*innen und linke Oppositionelle, die Verhaftungswellen und Kriminalisierung aller Art zu legitimieren. Alles, was Erdoğan und seiner AKP nicht in den Kram gepasst hat, wurde als terroristisch erklärt. Dabei werden PKK, YPG, PYD, FETÖ und der IS in einen Topf geworfen. Letzteres müssen die türkischen Medien natürlich gezwungenermaßen erwähnen, um die Tatsache zu verschleiern, dass es die Türkei selbst gewesen ist, die die Truppen des IS finanziell, medizinisch und logistisch versorgt hat.

Kriminalisierung in der Bundesrepublik

Die Kriminalisierung gegenüber kurdischen Aktivist*innen hat sich währenddessen auch in Deutschland extrem verschärft. Seitdem sich der Krieg der türkischen Regierung gegen die kurdische Bevölkerung zugespitzt hat, hat auch die Bundesrepublik ihre Politik dementsprechend angepasst. Es wurden zahlreiche Slogans und Symbole verboten. Sowohl Fahnen der YPG und YPJ, Bildnisse Öcalans als auch Symbole von legalen Jugendorganisationen in Europa (Ciwanên Azad, Jinên Ciwanên Azad und die Studierendenverbände YXK und JXK) durften auf Demonstrationen nicht mehr gezeigt werden. Es kam zudem vermehrt zu Hausdurchsuchungen und Festnahmen von Aktivist*innen. Fast alle Großdemonstrationen in Deutschland wurden von der Polizei entweder gar nicht erst genehmigt, durch die Polizei gewaltsam angegriffen und aufgelöst oder auf andere Weise durch Verbote eingeschränkt oder verhindert.

Deutsche Waffen gegen die kurdische Bevölkerung

Doch was viele Kurd*innen in Deutschland nicht vergessen haben, ist vor allem die Tatsache, dass es damals wie heute deutsche Panzer und Gewehre sind, die die türkische Armee gegen kurdische Dörfer, Familien, Freund*innen und Genoss*innen einsetzt. Nicht umsonst werden seit den 90er Jahren bei jeder Demonstration Slogans wie „Deutschland finanziert, Türkei bombardiert“ oder „Deutsche Panzer raus aus Kurdistan“ gerufen. Erneut sind es deutsche Waffen, die heute in Efrîn gegen Kurd*innen, Êzîd*innen, Assyrer*innen, Araber*innen, Alevit*innen, Frauen und unzählige Minderheiten eingesetzt werden. In Zeiten wie diesen ist es umso erstaunlicher, dass der deutsche Staat und vor allem der rechtsgesinnte Rand der deutschen Gesellschaft es sich erlauben, diesen Demonstrant*innen gegenüber so unglaublich ignorant zu sein.

Zur Situation im Rhein-Main-Gebiet

An dieser Stelle seien einige Beispiele aus dem Rhein-Main-Gebiet genannt:

Am Samstag, dem 10. Februar, gab es in Frankfurt eine Demonstration mit mehreren Hundert Teilnehmer*innen gegen den Krieg in Efrîn. Mit zahlreichen Slogans wurde auf die Beteiligung der Bundesregierung und die zunehmende Kriminalisierung in Deutschland aufmerksam gemacht. Schon am Anfang der Demonstration begann die Polizei dann, einige Aktivist*innen ohne Grund zu filmen. Nachdem die Demonstration am Goetheplatz mit einer Kundgebung beendet wurde, bemerkten wir, dass die Polizei einen 79 Jahre alten Freund zur Seite nahm und seine Personalien verlangte. Der Grund: Er soll „Freiheit für Öcalan, Frieden in Kurdistan“ gerufen haben. Demonstrant*innen, die den Freund unterstützen wollten, wurden von der Polizei abgewiesen und eine Journalistin, die das Geschehen aufnehmen wollte, wurde auf aggressive Art und Weise darauf hingewiesen, sie dürfe das nicht fotografieren.

Kurdische Parolen nicht erlaubt

Zusammengefasst: Hunderte von Menschen demonstrieren dort den ganzen Tag, weil ihre Familien und Freund*innen in Efrîn durch deutsche Waffen ermordet werden, und die deutsche Polizei hat nichts anderes zu tun, als einen 79 Jahre alten Demonstranten wegen eines Slogans festzuhalten! Vor einigen Monaten wurde zudem der kurdische Slogan „Bijî Serok Apo“ verboten, während der selbe Slogan auf Deutsch („Es lebe Öcalan“) nicht verboten wurde. Immer wieder verwarnte die Polizei in den letzten Monaten Demonstrierende und wies darauf hin, der Slogan sei auf Kurdisch nicht erlaubt.

Polizeiliche Repression, rassistische Kommentare

Um all die willkürlichen und ignoranten Polizeimaßnahmen der letzten drei Wochen aufzuzählen, reicht ein Artikel nicht aus. Aber was sich in der letzten Zeit im Zuge des Rechtsrucks in Deutschland und dem Erstarken der rechten Partei AfD vermehrt hat, sind rassistische Kommentare, die sich viele von uns momentan auf den Straßen anhören müssen. Neben türkischen Faschist*innen sind es nun vermehrt auch rechtsgesinnte Deutsche, mit denen wir auf unseren Aktionen für Efrîn konfrontiert sind. Auf einer Kundgebung in Offenbach Ende Januar kam ein Passant auf eine Aktivistin zu, die Flyer zu Erdoğans Krieg in Efrîn verteilte, und gab folgenden Kommentar ab: „Mir brauchste das nicht zu geben. Klärt das mal unter euch Landsleuten, ihr habt doch den Erdoğan gewählt, nicht wir.“ Einige Tage nach diesem Vorfall gab es einen stillen Protest in der Innenstadt von Frankfurt. Eine Frau mittleren Alters ging vorbei, las sich kurz die Schilder durch und schrie plötzlich quer durch die Hauptwache: „Geht doch in euer Land zurück! Wir sind hier in Deutschland!“

Rassismus und Ignoranz

Nein, das ist kein Witz. So sehen Rassismus und pure Ignoranz aus. Es ist der deutsche Staat, der die Türkei mit Waffen und Panzern versorgt und die Augen vor den Verbrechen des türkischen Staates verschließt. Im Zuge dessen wurden und werden noch weiterhin Tausende Menschen in die Flucht getrieben. In Deutschland angekommen, werden sie rassistisch und sexistisch diskriminiert. Tausende Flüchtlingslager in Deutschland wurden in den letzten Jahren von Rechten angegriffen. Und diejenigen, die Widerstand leisten und gegen diese Ungerechtigkeit auf den Straßen sind, werden von der deutschen Polizei kriminalisiert und mit allen Mitteln angegriffen.

Staaten haben kein Gewissen

Diese Vorfälle zeigen einmal mehr, dass Staaten und vor allem die Polizei so etwas wie ein Gewissen oder moralische Prinzipien nicht besitzen. Diese Vorfälle zeigen einmal mehr, dass vielen Menschen in Europa noch immer nicht bewusst ist, dass es Staaten wie Deutschland sind, die an diesen Kriegen beteiligt sind. Anstatt den Krieg irgendwie auf innerpolitische Konflikte der Türkei zu reduzieren und so zu tun, als kriege der Nahe Osten es bloß einfach nicht gebacken, Frieden herzustellen, muss die deutsche Öffentlichkeit und Gesellschaft erkennen, dass sich Deutschland mit zahlreichen Mitteln an Erdoğans Vorhaben beteiligt, die kurdische Freiheitsbewegung, ihre Ideen und die Revolution in Nordsyrien zu vernichten.

Die ständigen „Kurdendemos“

Dazu gehören auch Berichterstattungen in den deutschen Medien. Während ein großer Teil der deutschen Presse die YPG und YPJ vor einigen Jahren noch für die Befreiung von Kobanê feierte, scheint sie sich momentan wieder zu einem Werkzeug des Staates zu machen. Es wird ständig von „Kurdendemos“ berichtet, die aus irgendeinem Grund eskalieren und gewaltsam aufgelöst werden müssen. Ständig sind da die „radikalen Kurden“, die den Deutschen den Samstag in der Innenstadt vermiesen und für Ärger und Randale sorgen. Worüber die deutsche Presse schweigt ist: Warum demonstrieren Kurd*innen in Deutschland? Was steht in Efrîn auf dem Spiel? Was hat die Bundesrepublik damit zu tun? Was Efrîn für viele Kurd*innen symbolisiert und was dort seit einigen Jahren für Alternativen geschaffen wurden, bleibt im Dunkeln. Stattdessen gibt es etwa Schlagzeilen wie „Eskalation auf Kurden-Demo in Berlin“[1], „Polizei löst Kurdendemo auf“[2] oder „Verletzte Polizisten bei Kurden-Demo in Gelsenkirchen“[3], die weniger über den Grund der Demonstration als viel mehr über die Eskalationen berichten - und das auch noch unvollständig.

Efrîn geht uns alle an

Es gilt klarzumachen, dass der Widerstand in Efrîn uns alle etwas angeht. Efrîn symbolisiert die Revolution Tausender junger Frauen und steht für eine reale Alternative zu etatistischen, nationalistischen und patriarchalen Strukturen. Dort werden momentan ganze Familien vernichtet, die Leichname von Kämpferinnen werden missbraucht, Friedhöfe und jahrtausendalte kulturelle Stätten zerstört. Das sollte sich die Polizei vor Augen führen, bevor sie friedliche Demonstrationen auflöst, Kurd*innen kriminalisiert und sie behandelt wie Menschen zweiter Klasse. Das sollten sich rechte AfD-Anhänger vor Augen führen, bevor sie aus Kriegsgebieten geflohene Menschen beleidigen, angreifen und zu Eindringlingen erklären, obwohl es deutsche Waffen sind, die dort morden und diesen Menschen ihre Heimat rauben. Das sollte sich die Presse vor Augen führen, bevor sie kurdische Demonstrierende als Unruhestifter darstellt, anstatt ihre Forderungen bekannt zu machen und zu berichten, was in Efrîn wirklich geschieht.

Menschen, die sich als Teil eines Kampfes für eine freie Gesellschaft betrachten, dürfen heute nicht davor zurückschrecken, sich mit dem Widerstand in Efrîn zu solidarisieren - gegen Besatzung, gegen Krieg, gegen Kriminalisierung, gegen Nationalismus, Kapitalismus und Sexismus.

 


[1]Der Tagesspiegel am 26.01.2018

[2]radioduisburg.de am 11.02.2018

[3]Der WDR am 30.01.2018