Entsetzen und Empörung nach Vergewaltigung in Südkurdistan

Ein Mädchen wird in Hewlêr vergewaltigt. Die Täter werden schnell gefasst, müssen sich dennoch nicht verantworten. Ein steiniger Weg im Kampf um Gerechtigkeit des Kindsvaters beginnt. Und mündet in einem Tabubruch, den es in Başûr so noch nie gegeben hat.

Ein siebenjähriges Mädchen wird im April 2019 in der südkurdischen Metropole Hewlêr (Erbil), der Hauptstadt der von der Barzanî-Partei PDK regierten Autonomen Region Kurdistan, aus seiner Schule entführt und von drei Männern vergewaltigt. Der Hauptverdächtige - ein 17-Jähriger namens Ibrahim – ist kein Unbekannter, sondern ein Neffe der Stiefmutter des Mädchens. Ihr vertraut es sich an, doch statt Hilfe zu rufen, geht die Frau gewaltsam gegen das traumatisierte Kind vor. Sie übergießt ein Bein mit heißer Flüssigkeit, bedroht das Mädchen, damit es schweigt. Der Vater, ein Peschmerga-Veteran der YNK (Patriotische Union Kurdistans), erfährt vom Martyrium seiner Tochter. Im Juni geht er zur Polizei und bringt die Vergewaltigung zur Anzeige. Die Täter werden schnell gefasst und auch die Stiefmutter und Tante des Mädchens werden festgenommen. Kurz darauf werden alle fünf von einem Gericht gegen Hinterlegung einer Kaution wieder freigelassen. Der Vater geht erneut zur Polizei. Diese setzt nun offenbar alles daran, den Fall unter der Decke zu halten und die Täter vor der Justiz zu schützen.

Währenddessen versuchen die Vergewaltiger das Mädchen erneut zu verschleppen – glücklicherweise ohne Erfolg. Der Vater wendet sich an die Presse, erzählt, dass einer der Täter der Leibwächter eines einflussreichen PDK-Beamten sei, doch nur wenige Medien berichten von dem Fall. Er gibt nicht auf, geht wieder zur Polizei, gibt an, von den Familien der Vergewaltiger unter Druck gesetzt zu werden, weil diese sich eine „außergerichtliche Einigung“ erhoffen, aber der korrupte Sicherheitsapparat Südkurdistans stellt sich diesmal ganz offen hinter die Täter, spricht Drohungen gegen den Mann aus, legt ihm nahe, nicht an die Öffentlichkeit zu gehen und seine Anzeige gegen das Trio zurückzuziehen. Andernfalls könne für sein Leben nicht garantiert werden. Der Mann beschwert sich vergeblich bei hochrangigen PDK-Politikern, wendet sich an Menschenrechtsorganisationen. Zwischenzeitlich werden zwei der Täter erneut kurzzeitig festgenommen. Der Vater prangert vor Gericht an, dass juristische Entscheidungen von politischen Überlegungen geleitet werden. Es kommt heraus, dass der Leiter der Schule ganze sieben Sichtungen einer Gruppe junger Männer, die Kinder belästigte, bei den Sicherheitsbehörden gemeldet hat. Doch statt zu handeln, ignorierte die Polizei die Warnungen. Mittlerweile sei jedem klar, dass der Fall „politisiert“ worden sei, die Richter ohnehin befangen wären und ihre Entscheidungen nicht objektiv träfen. Die Ursache sieht der Peschmerga-Veteran beim innerkurdischen Konflikt zwischen der YNK und der PDK.

Dann, letzten Mittwoch, kommt der ganz große Tabubruch: Loqman Îsmail, der Vater des inzwischen achtjährigen Mädchens, beruft mitten in Hewlêr eine Pressekonferenz ein. Er steht da in Şal û Şepik, der traditionellen Kleidung von Peschmerga-Kämpfern, die, so heißt es übersetzt „dem Tod ins Auge sehen“. Hinter ihm, in der Ferne, weht die Ala Rengîn, die Flagge Kurdistans. Îsmail stellt sich vor mehreren Mikrofonen auf und fängt an zu erzählen. Er nennt Einzelheiten der Vergewaltigung, holt kaum Luft, schildert seinen Kampf um Gerechtigkeit für seine kleine Tochter, berichtet von den Morddrohungen gegen ihn, dem südkurdischen Justizsystem, das an allen Enden krankt, dem Einfluss der Politik auf Justiz- und Polizeiangelegenheiten und umgekehrt. Und er fordert die Verhaftung der Täter. Immer an der Seite des Mannes, aber mit dem Rücken zu den Kameras: seine kleine Tochter.

Am Freitag schließlich erklärte Samir Hawrami, Sprecher des stellvertretenden Ministerpräsidenten Qubad Talabani, die Regierung habe sich eingeschaltet und eigene Ermittlungen aufgenommen. Ein Verdächtiger befinde sich mittlerweile in Haft, der Vater des Mädchens dementierte dies allerdings. Alle Täter befänden sich nach wie vor auf freiem Fuß, sagte er. Laut Hawrami sei zudem der Gouverneur von Hewlêr höchstpersönlich mit dem Fall betraut worden, um eine gewissenhafte Aufklärung zu gewährleisten. Die Polizei wies unterdessen die Anschuldigungen von Îsmail zurück, den Peschmerga bedroht und genötigt zu haben. Die Behörde behauptete, die Ermittlungen um die Vergewaltigung des Mädchens seien abgeschlossen und die Ergebnisse dem zuständigen Gericht übermittelt worden. Das Innenministerium gab außerdem an, einen Ausschuss gebildet zu haben, der den Fall weiter untersuchen soll.

Ob dem tatsächlich so ist, wird sich zeigen.

Die Vergewaltigung des heute achtjährigen Mädchens löste in Südkurdistan Empörung und Entsetzen aus. In sozialen Netzwerken ist der Fall seit Tagen das beherrschende Thema. Es bleibt zu hoffen, dass die Tat einen gewaltigen öffentlichen Aufschrei erzeugt. In der von einer Besatzermentalität geprägten patriarchalen Gesellschaft Südkurdistans ist sexuelle Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen in einigen Regionen tief verankert und Teil einer umfassenden Benachteiligung und Unterdrückung, die auch die Polizei und Justiz mit einschließt. In Südkurdistan braucht es ein grundsätzliches Umdenken.