Wenn Solidarität zum Anklagevorwurf wird

Im März 2018 wollten Münchner Aktivisten die BayernSPD bei einem Besuch dazu bewegen, Stellung gegen den Angriffskrieg auf Efrîn zu beziehen. Der SPD-Landesgeschäftsführer reagierte mit Strafanzeigen. Vor dem Amtsgericht findet heute der Prozess statt.

Der Landesgeschäftsführer des bayerischen Landesverbands der SPD, Olaf Schreglmann, hat gegen mehrere Münchner Aktivist*innen Anzeige erstattet. Grund für die Anzeige ist ein Besuch der SPD-Geschäftsstelle im vergangenen Jahr. Am 20. März 2018 hatten etwa 20 Aktivist*innen eine Kundgebung an der Zentrale der BayernSPD abgehalten. Sie wollten damit die Abgeordneten der SPD dazu bewegen, klar Stellung gegen den türkischen Angriffskrieg gegen die kurdischen Selbstverwaltungsstrukturen in Nordsyrien zu beziehen und ihren Protest direkt verantwortlichen Mandatsträgern vorzutragen. Die BayernSPD reagierte damit, dass sie ein Großaufgebot der Polizei hinzurief und Strafanzeige gegen alle Beteiligten stellte.

In den letzten Monaten kam es daher vor dem Amtsgericht München zu einer Reihe von Verfahren wegen Hausfriedensbruch, Nötigung und öffentlichen Tragens vermeintlich verbotener Symbole. Am heutigen Dienstag findet der Hauptprozess in dieser Sache statt. Wir veröffentlichen einen Kommentar des Angeklagten Benjamin Ruß:

Der Vorwurf lautet: Hausfriedensbruch in Tateinheit mit Nötigung. Angeklagt sind neben mir zwei weitere Personen. Einer der beiden Angeklagten, Hzrwan Abdal, ist selbst Ezide. Der dritte, Maximilian Roddorf, schloss sich aus Solidarität dem Protest an. Aber was war eigentlich geschehen?

Am 20. Januar 2018 begann die türkische Armee ihre Offensive in Richtung der kurdischen Stadt Afrin. Der Name der Offensive lautete „Olivenzweig“, um die friedfertigen Absichten eines bis an die Zähne bewaffneten Militärs zu unterstreichen, das dabei war, eine befriedete Region in den Krieg zu reißen. Die Offensive sorgte international für Empörung. Die NATO ließ jedoch Erdogans Militärapparat gewähren, die Reaktionen aus den Mitgliedsstaaten kann man als verhalten bezeichnen. Sie waren nicht mehr als heiße Luft, der Angriff wurde nicht einmal verurteilt. Im Gegenteil, die deutsche Bundesregierung - unter Beteiligung der SPD - unterstützte den Krieg durch die Aufrechterhaltung der Waffenlieferungen, durch außenpolitisches Schweigen und eine extreme Steigerung der Repression gegen politische Aktivitäten der in Deutschland lebenden Kurd*innen sowie gegen eine seit 2014 wieder stark angewachsene deutsche Solidaritätsbewegung.

Die NATO hatte, mal wieder, einem einzelnen Mitgliedsstaat durch ihre Passivität Feuerschutz gewährleistet. Nicht einmal das Banner des Völkerrechts konnte sie entrollen und vor sich hertragen. Denn dieser Angriff war nichts anderes als der bewusste Bruch des Völkerrechts. Er hat erneut aufgezeigt, wie wichtig das Völkerrecht den Herrschenden ist: absolut nicht! Erst, als die Berichte über den Terror des türkischen Militärs und dessen islamistischen Verbündeten zunahmen, es also nicht mehr zu leugnen war, dass dieser Krieg nicht der eigenen Verteidigung diente, sondern der ethnischen Säuberung und damit der territorialen Erweiterung der Türkei, kamen erste Ermahnungen in Richtung Ankara. Als ob durch die Äußerungen Erdogans im Vorfeld nicht schon klar geworden war, worum es bei diesem Angriff eigentlich ging. Dem nicht genug, die deutsche Regierung betont immer wieder aufs Neue die Gemeinsamkeiten im Kampf gegen den Terrorismus und bestätigte damit das Vorgehen türkischer Sicherheitskräfte gegen Kurd*innen.

Der Kanton Afrin war bis zum Zeitpunkt des Angriffes ein Rückzugsort für viele Syrer*innen, Kurd*innen und Ezid*innen geworden, die vor Verfolgung, Luftangriffen, Massakern und der unsicheren Versorgungslage in den zentralen Regionen Syriens geflohen waren. Afrin war Teil der kurdischen Selbstverwaltung und stand unter Kontrolle der kurdischen Selbstverteidigungseinheiten, die die Hauptlast des Kampfes gegen die Einheiten des sogenannten IS getragen hatten und immer noch tragen. Im Januar 2018 war Afrin als Teil Rojavas ein befriedetes Gebiet. Die Offensive der türkischen Regierung änderte das schlagartig. Sie griff aktiv in den syrischen Krieg ein und griff den Teil Syriens an, der bis heute vor Ort für das Selbstverteidigungsrecht unterdrückter Völker und Frauenrechte steht.

Der türkische Angriff auf Rojava ist somit nicht nur rein physischer Natur, sondern vielmehr ein politischer Angriff. Er ist als bewusster Schlag gegen eine sich organisierende kurdische Bevölkerung zu verstehen. Eine Bevölkerung, die in vier Staaten systematischer Verfolgung und Unterdrückung ausgesetzt war und immer noch ist. Kurd*innen waren und sind immer noch dem Staatsterror der türkischen Regierung ausgesetzt - unter deutscher Mithilfe und Profitgier. Der Protest und die Selbstorganisierung der Kurd*innen wird sowohl in der Türkei und im Iran als auch in der BRD kriminalisiert und bisweilen unmöglich gemacht. In Syrien und im Irak sind Kurd*innen immer wieder zwischen die Fronten der Interessen geraten. Sie sind Opfer von Massenmorden, ihnen werden grundlegende demokratische Rechte aberkannt. Ihre Symbole, die ihre Herkunft, ihre Sprache und ihre Kultur ausdrücken, sind in vielen Staaten verboten, so auch in Deutschland. Viele Kurd*innen sind zur Flucht gezwungen und haben in der dann neuen Heimat weiterhin mit Verfolgung zu rechnen.

Die nationale Frage Kurdistans bleibt ungelöst und aktuell, mit hoher Wahrscheinlichkeit wird sie sich im Rahmen der geopolitischen Spannungen noch verschärfen. Die Frage der fehlenden Repräsentation, nach einem eigenen Staat, wird sich in weiteren Wellen der Repression und Verfolgung ausdrücken, wie der Angriff der Türkei auf Afrin gezeigt hat. Die anti-kurdischen Gesetze in der BRD haben einen kolonialistischen Charakter, in dem sie zum einen dem kurdischen Volk das Selbstbestimmungsrecht auf politische Repräsentation entziehen, zum anderen geben sie besonders dem Besatzerstaat Türkei die politische Rückendeckung, um den kurdischen Widerstand zu brechen und Kurdistan als innere Kolonie aufrecht zu erhalten.

Zwei Monate nach dem türkischen Überfall auf Afrin, am 20. März 2018, organisierten deutsche, türkische, kurdische und ezidische Jugendliche einen spontanen Besuch des bekannten SPD-Gebäudes am Münchner Oberanger. Hier befindet sich unter anderem die Geschäftsstelle der bayerischen SPD und das Büro der Bundestagsabgeordneten Claudia Tausend. Im Bündnis „Solidarität mit Afrin“ war vor dem Hintergrund der dramatischen Situation in Afrin die Entscheidung zu solch einer Aktion getroffen worden. Ziel des Besuches sollte es sein, das direkte Gespräch mit Abgeordneten des Bundes- oder Landtags zu suchen. Mit dabei waren unter anderem Geflüchtete aus Afrin. Die SPD hätte in ihrer Rolle als Regierungspartei und verantwortlich für das Außenministerium genügend Möglichkeiten gehabt, direkten Einfluss auf die Situation vor Ort zu nehmen. Anstatt jedoch ein Gespräch zu ermöglichen, besann sich Geschäftsführer Schreglmann auf die traditionelle Rolle der SPD als Steigbügelhalter des deutschen Militarismus und rief die Polizei.

Nun ist solch ein Verhalten sozialdemokratischer Bürokrat*innen bestimmt nicht ungewöhnlich, wollen sie doch ihre Posten unter allen Umständen und jeglichen Kosten erhalten. Dafür drücken sie schon mal ein Auge zu, wenn deutsche Waffenexporte woanders für Zerstörung und Tod sorgen. Dass ihre Politik, ihre Patronen, ihr Hofieren von Despoten zu hunderttausendfachem Hausfriedensbruch und hunderttausendfacher Nötigung führen, ja sogar zu Mord und Vergewaltigung, versuchen sie zu verdecken. Um sich der politischen Kritik zu entziehen, zerren sie lieber Jugendliche vor Gericht, die sich klar gegen Krieg, gegen Waffenexporte, für Frieden und für das Selbstbestimmungsrecht der Völker einsetzen. Damit gibt die bürokratische Führung auch ein Signal an die innere Opposition, die der GroKo-Politik der Führung ablehnend gegenübersteht. Der Versuch der Disziplinierung richtet sich auch an die eigene Parteijugend, die sich sehr wohl gegen die Politik der inneren Militarisierung stellt. Die Jugendlichen des 20. März in München haben offenbar den Nerv der sozialdemokratischen Heuchelei getroffen. Olaf Schreglmann sowie die Führung der BayernSPD wollen die Verantwortung von sich weisen. Die Führung der SPD und die ihr hörige Parteibürokratie sind mitverantwortlich für die Situation in der Türkei, in Syrien und in Kurdistan. Ihre Politik ist es, die Menschen zur Flucht zwingt, die Kriege überhaupt erst ermöglicht. Der Prozess, den sie mit ihren Anzeigen ausgelöst haben, ist nichts anderes als ein politischer Prozess. Über die Bande des bürgerlichen Strafgesetzbuches versuchen sie politisierte Jugendliche zu disziplinieren und zu kriminalisieren. Das Anliegen und die Kritik der Jugendlichen des 20. März 2018 war und ist vollkommen gerechtfertigt. Auf der Anklagebank sollte Olaf Schreglmann sitzen und Fragen beantworten, was er und die BayernSPD bisher getan haben, um die Waffenexporte zu stoppen und die Verfolgung von Kurd*innen und Ezid*innen zu beenden. Jede*r einzelne Angehörige der YPG/YPJ, die von der SPD und ihren Bürokrat*innen wie Olaf Schreglmann als Terrorist*innen bezeichnet werden, haben das Recht zu erfahren, was die Rolle der SPD in diesem Krieg ist.

Darüber hinaus offenbart dieser Prozess einmal mehr die Rolle, die die Staatsanwaltschaft München im Zusammenhang mit den Staats- und Verfassungsschutzbehörden spielt. Nicht nur wies die Staatsanwaltschaft im Prozess gegen Arash Dosthossein das Gericht auf einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Angeklagten und mir hin. Kaum ein Prozess gegen mich vergeht, ohne dass die Staatsanwaltschaft in Berufung geht. Die Behörden in München unterlassen darüber hinaus keinen Versuch, politisch linke, aktive Menschen zu verfolgen. So durchsuchte der Staatsschutz im Februar 2018 mein Zimmer und konfiszierte einen Großteil meiner Unterlagen, darunter Kontoauszüge aus dem Jahr 2007, um mir Sozialbetrug vorwerfen zu können. In Folge der Ermittlungen wies der Staatsschutz das Sozialamt an, meine mir zustehenden Gelder nicht auszuzahlen. Nur durch den DGB-Rechtsschutz konnte ich mich gegen die Einstellung der Zahlung wehren. Knapp 18 Monate später wurde das Verfahren eingestellt und die Aktenordner zurückgeschickt. In einem weiteren Verfahren versucht die Staatsanwaltschaft mir das Zeigen von faschistischen Symbolen anzudichten, in einem weiteren die Unterstützung der PKK. Meine Einträge in soziale Medien werden minutiös überwacht. Es wird kaum eine Möglichkeit ausgelassen, in der eventuell eine Verurteilung zustande kommen könnte. Ich bin seit 2012 politisch aktiv, seit 2015 habe ich öffentlich Stellung bezogen. Seit diesem Zeitpunkt folgt eine Anzeige der nächsten. Der Prozess gegen die SPD reiht sich dort ein.

Auch die beiden Mitangeklagten sind politisch aktiv. Für Hzrwan Abdal ist der Angriff auf Afrin die Fortsetzung des Völkermords an den Ezid*innen, die Anzeige gegen ihn bewertet er als politische Verfolgung und Unterdrückung im Sinne des türkischen Staates. Dass das Verfahren gerade gegen uns drei mit aller Macht durchgezogen werden soll ist beispielhaft für die Versuche seitens des Staates, Kritik an den herrschenden Bedingungen und den dafür Verantwortlichen zu kriminalisieren. Die SPD-Bürokratie verteidigt wie eh und je die Interessen der Herrschenden und die des bürgerlichen Staates. Sie zeigt damit ihren Chauvinismus in aller Deutlichkeit.

Die Anliegen des deutschen Staates sind zum Einen die Aufrechterhaltung deutscher (Kriegs)Profite und zum Anderen die Kriminalisierung der deutschen Linken. Repression gibt es daher aus vielen Anlässen: seien es Klimaproteste, antifaschistische und antirassistische Proteste, gegen Geflüchtete und zum Schutz klerikaler Fundamentalist*innen. Bei G7, bei der EZB-Eröffnung, bei G20, im Alltag migrantischer Jugendlicher und Arbeiter*innen durch das Integrationsgesetz und das PAG, bei Menschen, die Containern und denen, die andere Formen des Widerstandes wählen. Widerstand gegen ein System, das dem Großteil der Menschen keine Perspektive mehr bieten kann. Gegen die Repression des bürgerlichen Staates und seine zunehmende Militarisierung brauchen wir eine breite Öffentlichkeit hinter uns. Wir brauchen einen Bruch mit der Politik des kleineren Übels, einen Bruch mit der Politik der GroKo. Wir brauchen einen Bruch mit der Bürokratie, deren Selbsterhaltungstrieb es weiten Teilen der Ausgebeuteten und Unterdrückten verunmöglicht, sich ihre demokratischen Rechte zu erkämpfen. Nur in einer Zusammenführung dieser demokratischen Kämpfe können wir uns erfolgreich verteidigen.

Der Prozess vor dem Amtsgericht München (Nymphenburger Str. 16), Sitzungssaal A221, beginnt um 9.30 Uhr.