Ok: NGO-Gesetz legalisiert den Ausnahmezustand

Das zur Jahreswende im türkischen Parlament verabschiedete Gesetz zur Regulierung zivilgesellschaftlicher Organisationen sorgt weiterhin für Proteste. Rechtsanwalt Veysel Ok bezeichnet die Initiative der Regierung als Legalisierung des Ausnahmezustands.

In der Türkei rufen immer mehr Organisationen zum Widerstand gegen das umstrittene Gesetz zur Regulierung von NGOs auf. Das kurz vor der Jahreswende mit den Stimmen der Regierungsfraktionen von APK/MHP gebilligte Gesetz soll dem Namen nach die „Finanzierung und Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen“ verhindern. Doch von den 43 Artikeln des Gesetzes gelten nur sechs diesem Thema. Die restlichen Regelungen dienen dazu, die Zivilgesellschaft an die Kette zu legen. Die Bestimmungen gewähren dem Innenministerium und dem Präsidenten Befugnisse, Mitglieder von zivilrechtlichen Organisationen, gegen die wegen Terrorismusvorwürfen ermittelt wird, durch staatliche Zwangsverwalter zu ersetzen. Ferner sollen Behörden bei Gericht beantragen können, Aktivitäten von NGOs komplett auszusetzen. Das Gesetz sieht weiterhin vor, dass Stiftungen jährlich von Beamten kontrolliert werden. Lokale Gouverneure oder der Innenminister können zudem Online-Spendenaktionen blockieren, um „Terrorismusfinanzierung und Geldwäsche zu verhindern”. Die Höhe der Geldstrafen, die gegen Organisationen verhängt werden können, sind stark angehoben worden. In der Praxis wird dies zur Schließung vieler Vereine führen. Das Gesetz gilt auch für internationale Organisationen.

Keine Änderung an Status quo durch Notstandsende

Veysel Ok ist über den Schritt der Regierung, kritische Stimmen auf Linie zu bringen, nicht überrascht. Der Rechtsanwalt und Ko-Vorsitzende von „Media and Law Studies Association” (MLSA), einer Medienrechtsorganisation, die verfolgten Journalistinnen und Journalisten anwaltliche Pro-Bono-Unterstützung bietet, bezeichnet die Gesetzesinitiative als Legalisierung des Ausnahmezustands. „Als die türkische Regierung nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 den Ausnahmezustand verhängte, begann eine neue Ära“, sagt Ok. Damals ließ Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan bereits über 1700 Stiftungen, Verbände und Vereine per Dekret verbieten. Grundrechte wurden eingeschränkt, mehrere Wellen von Massenentlassungen und -verhaftungen rollten über das Land und gegen mehr als 300.000 Menschen wurden Ermittlungen wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation eingeleitet. Nach einem Sonderbericht des Europäischen Rechnungshofs hat sich die Mitgliederzahl von zivilrechtlichen Verbänden in der Türkei zwischen 2015 und 2016 um rund 75 Prozent reduziert. „Die Gefängnisse sind noch heute bevölkert von Akteuren der Zivilgesellschaft, die damals verhaftet worden sind. Osman Kavala ist einer von ihnen. Die Anklageschrift gegen ihn befasst sich hauptsächlich mit seinem zivilgesellschaftlichen Engagement“, so Ok. Das Ende des Ausnahmezustandes im Juli 2018 habe am Status quo also kaum etwas verändert. Die Regierung habe dafür gesorgt, dass nahezu alle restriktiven Elemente aus der Notstandsregelung, die den Behörden außerordentliche Machtbefugnisse geben, in die Gesetzgebung übernommen wurden.

Veysel Ok

NGO-Gesetz ein gefährliches Werkzeug

Der Ausnahmezustand ist längst zur Normalität in der Türkei geworden. Erdoğan hat ihn aufgehoben, weil er ihn schlicht nicht mehr braucht, denn das Präsidialsystem sichert seine Macht. Veysel Ok befürchtet, dass das NGO-Gesetz ein gefährliches Werkzeug in den Händen der Regierung wird. Am „bedrohlichsten“ findet der Jurist, dass das Innenministerium das Recht hat, ein Gruppenmitglied von seiner Position zu suspendieren, wenn gegen die Person ein Terrorverfahren läuft. Dadurch würde die Unschuldsvermutung verletzt: „Die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei ist ohnehin mehr als eingeschränkt. Ermittlungen im Rahmen der ‚Antiterrorgesetze‘ können praktisch gegen jeden eingeleitet werden. Ein Polizeibeamter im Innenministerium beispielsweise kann ein Protokoll über Sie erstellen, auf dessen Grundlage staatsanwaltliche Ermittlungen eingeleitet werden. Dasselbe Innenministerium kann Sie allerdings auch des Amtes entheben. Dieser Widerspruch existiert und die Vorenthaltung von Bürgerrechten und Rechtspersönlichkeit ohne jegliche Verurteilung oder Gerichtsentscheidung ist ein Vorbote des Unheils, das uns allen bevorsteht.“

Unberechenbare Dynamik

Ok spricht von einer „unberechenbaren Dynamik“, in der rechtsstaatliche Beweise und andere Kriterien keine Rolle mehr spielten. „Ideen, die vor fünf Jahren noch als völlig normal galten, können heute als Terrorismus umgedeutet werden. Oder uralte Beiträge bei Twitter werden zur Grundlage von Haftbefehlen oder Verurteilungen als Terroristen. Demokratische Rechte wie die Teilnahme an einer Pressekonferenz können in Ermittlungen wegen Terrorismusvorwürfen einfließen. Angesichts der Tatsache, dass ohnehin bereits gegen tausende Akteure der Zivilgesellschaft ermittelt wird, ebnet die Regulierung von NGOs sicherlich den Weg, das Gesetz als ein doch recht bösartiges Unterdrückungsinstrument einzusetzen“, führt Veysel Ok weiter aus.

NGOs letzte Bastion der Demokratie

Das nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni 2015 in der Türkei eingeführte Präsidialsystem gibt Recep Tayyip Erdoğan fast uneingeschränkte Macht über den Staatsapparat und die Politik im Land. Der AKP-Chef kontrolliert die Medien und die Justiz, soziale Netzwerke wurden strengen Auflagen unterworfen und gelten nicht mehr als letzten Bastionen der Meinungsfreiheit, die Autonomie der Anwaltskammern ist unterlaufen worden. Als letzter Ort der Opposition ist nun die Zivilgesellschaft an der Reihe, vollkommen unterdrückt zu werden, sagt Veysel Ok. „Die NGOs sind die einzig Verbliebenen, die sich zur Demokratie bekennen und sich in diesem Sinne äußern.“ Bleibt nur zu hoffen, dass die Widerstandsfront nicht allzu lange auf sich warten lässt.