Erneut ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen die Hamburger Abgeordnete Cansu Özdemir wegen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz. Ein gleich gelagertes Verfahren gegen Özdemir im Jahr 2015 war nach kurzer Zeit ebenso eingestellt worden wie entsprechende Ermittlungsverfahren gegen verschiedene Abgeordnete des Deutschen Bundestags.
„Ein Ermittlungsverfahren wegen eines Fotos auf Twitter ist heute genauso überzogen, wie es das Verfahren im Jahr 2015 schon war“, erklären dazu die beiden Fraktionsvorsitzenden Sabine Boeddinghaus und Cansu Özdemir. „Bei dem auf Twitter geteilten Beitrag handelt es sich um eine Meinungsäußerung und politische Forderung, die die Partei DIE LINKE unterstützt und der mit dem Beitrag Nachdruck verliehen wurde.“
Unabhängig von dem aktuellen Ermittlungsverfahren stelle sich die Frage, warum die deutschen Behörden nach wie vor mit solchem Eifer das Geschäft des türkischen Staats betreiben, so Boeddinghaus und Özdemir: „Es muss endlich Schluss sein mit der Verfolgung von Menschen, die sich nichts zuschulden kommen lassen als das Symbol einer Vereinigung zu zeigen, die eine der wichtigsten integrativen politischen Kräfte im Mittleren Osten ist, die begleitet von weltweiter Solidarität gegen die Milizen des IS und für Frauenrechte und Demokratie kämpft.“
Weg mit dem Verbot der PKK, Unterstützung für Efrîn
Die kurdischstämmige Politikerin der Linkspartei hat eine persönliche Erklärung zu dem Ermittlungsverfahren verfasst, die wir im Folgenden ungekürzt dokumentieren:
„Erneut wurde gegen mich ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, weil ich in den sozialen Medien die Fahne der in Deutschland verbotenen Arbeiterpartei PKK geteilt habe. Schon 2015 ermittelte die Staatsanwaltschaft aufgrund des selbigen Verdachts (Verstoß gegen das Vereinsgesetz) gegen mich – mitten im Wahlkampf und scheinbar in der Absicht, mir im Wahlkampf zu schaden. Ich habe damals nicht die Herstellung meiner Immunität als Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft beantragt und werde es jetzt auch nicht tun.
Denn: Das PKK-Verbot ist aus meiner und der Sicht Tausender anderer Menschen in Deutschland falsch, heuchlerisch und ein Instrument der Repression gegenüber den politisch aktiven Kurd*innen und ihren Genoss*innen in Deutschland. Außerdem unterstützt die Bundesrepublik Deutschland ihren NATO-Partner Türkei politisch, indem sie weiterhin am Verbot der PKK festhält. Durch die Erweiterung des Betätigungsverbots der PKK im Jahr 2017 werden die in Deutschland lebenden Kurd*innen und die sich mit dem kurdischen Widerstand im Mittleren und Nahen Osten solidarisch zeigenden Menschen noch stärker stigmatisiert und kriminalisiert. Grundrechte der Versammlungs-, Vereinigungs- und der Meinungsfreiheit und damit die freie politische Betätigung werden massiv eingeschränkt. Zigtausende politisch aktive Kurd*innen wurden bis heute kriminalisiert, zu Geld- oder Haftstrafen verurteilt. Auf Grundlage des Verbots wurden sogar Staatsbürgerschaften aberkannt, Einbürgerungen abgelehnt oder sogar Bewerber*innen auf Stellen in staatlichen Einrichtungen mit dieser Begründung abgelehnt.
Ein Akt der Willkür
Das Verbot und die damit verbundenen Repressionen sind ein Akt der Willkür, ein Versuch der politischen Einschüchterung und ein Geschenk der Bundesregierung an ihren NATO-Partner Erdogan. Dass nun auch die Fahnen der YPG/YPJ, der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten die den Islamischen Staat bekämpft haben, unter anderem in Hamburg verboten wurden, zeigt noch einmal deutlich, wie dramatisch tief Merkels Kniefall vor Erdogan ist.
Ich betrachte weder die PKK noch die PYD und YPG/YPJ als „Terrororganisation“. Zu Recht urteilte letztes Jahr im Herbst ein Berufungsgericht in Belgien, dass die PKK Partei in einem internen bewaffneten Konflikt mit der Türkei sei und keine Terrororganisation. Das Gericht stellte außerdem fest, dass die PKK für die Rechte der Kurd*innen kämpfen und nicht die Bevölkerung terrorisieren würde. Die kurdische Bewegung im Mittleren Osten stellt in meinen Augen eine demokratische Perspektive dar. Aktuell werden in Rojava (Nordsyrien) die Ideen und Ansätze des seit 1999 auf der Gefängnisinsel Imrali (Türkei) inhaftierten und sich in Totalisolation befindenden PKK-Repräsentanten Abdullah Öcalan umgesetzt. Frauen und Männer sind in allen gesellschaftlichen Bereichen und Ebenen gleichberechtigt. Alle ethnischen und religiösen Gruppen ebenso. Das Zusammenleben wird jenseits kultureller, ethnischer und religiöser Grenzen friedlich und demokratisch gestaltet.
Bundesregierung unterstützt diktatorisches Erdoğan-Regime
Die Bundesregierung sollte eigentlich diese progressiven Kräfte unterstützen. Das tut sie aber nicht – im Gegenteil. Bevorzugt wird die Unterstützung des diktatorischen Regimes unter Erdoğan. Die Bundesregierung liefert weiterhin Kriegswaffen, mit denen diese mühsam aufgebauten Strukturen zerstört werden sollen und Zivilist*innen getötet werden. Aktuell führt die türkische Regierung Krieg gegen die Bevölkerung in Afrîn – mit Leopard-2-Panzern aus deutscher Herstellung. Seit Beginn der Offensive wurden hunderte Zivilist*innen, darunter viele Kinder getötet. Die Bundesregierung lässt Erdogan seine gefährlichen Terrornetzwerke in Deutschland ausbauen und gewährt weiterhin den Agenten des MIT die Freiheit, Mordpläne gegen Oppositionelle zu schmieden und sie zu verfolgen – ohne dafür Konsequenzen zu befürchten. Die Bundesregierung weiß, dass die türkische Regierung gemeinsam mit islamistischen Gruppen schwere Kriegsverbrechen an Zivilist*innen in Afrîn begeht. Die Bundesregierung weiß, dass die türkische Regierung den Islamischen Staat und andere islamistische Terrororganisationen unterstützt.
Zusammengefasst: Die Bundesregierung unterstützt Erdogan, einen islamistischen Diktator, der nicht nur Journalist*innen, Abgeordnete, Bürgermeister*innen und andere Kritiker*innen verhaftet, verfolgt und sogar mit dem Tod bedroht. Erdogan hat unzählige Menschenleben auf dem Gewissen und lässt weiter Menschen brutal ermorden. Wer einen solchen Diktator unterstützt, stärkt ihn und seine islamistischen Terrorpartner. Wer einen solchen Diktator unterstützt, betreibt eine heuchlerische Politik, die vielen Menschen das Leben kostet. Wer sich als Regierung auf die Seite eines solchen Diktators stellt, stellt sich gegen Demokratie, Frieden und den Freiheitskampf der Frauen im Mittleren Osten und schwächt den Kampf gegen islamistische Gruppen. Wer einen solchen Diktator unterstützt, trägt dazu bei, dass Menschen wieder ihre Heimatländer verlassen und flüchten müssen.
Widerstand gegen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg
Der Widerstand der kurdischen Bewegung im Mittleren Osten, vor allem der kurdischen Frauen, gegen den Diktator Erdogan und seine islamistischen Terrorpartner ist ein berechtigter Widerstand. Seit 48 Tagen leisten die Bevölkerung und die Kräfte der YPG und YPJ in Afrîn und Rojava einen enormen Widerstand gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Die Bevölkerung flüchtet nicht, sie läuft den türkischen Bomben entgegen und verteidigt ihre Errungenschaften. All jene Menschen in Deutschland, die sich mit diesem berechtigten Widerstand solidarisieren, die Fahnen der YPG/YPJ und der PKK zeigen, werden kriminalisiert. Die Politik der Bundesregierung in Bezug auf die Türkei ist heuchlerisch, feige und verantwortungslos. Mir ist klar, dass Außenpolitik immer interessengeleitet ist. Aber wenn Moral und Werte keine Rolle mehr spielen, wie aktuell bei der Bundesregierung, dann ist das eine Bankrotterklärung und eine Schande für die deutsche Außenpolitik. Innenpolitisch betrachtet ist es eine heftige Einschränkung von Grundrechten hier lebender Menschen.
Seit längerem werden deutsche Abgeordnete mit türkischem und kurdischem Hintergrund bedroht und verfolgt durch die gefährlichen Netzwerke Erdogans in Deutschland, wenn sie es wagen, sich kritisch zu äußern. Ich gehöre zu diesen Abgeordneten. Zweimal habe ich die Hamburger Sicherheitsbehörden über türkische Agenten des MIT informiert. Einer wurde verurteilt, befindet sich jedoch wieder auf freiem Fuß. Ein Ermittlungsverfahren gegen einen anderen mutmaßlichen Agenten des MIT wurde nicht einmal eingeleitet – trotz Beweise. Einer dieser Agenten wollte mich im Haus meiner Eltern besuchen, der andere besuchte mich in meinem Büro. Die Drohungen, darunter Mord- und Vergewaltigungsdrohungen von Anhängern der AKP, haben sich in den letzten Jahren vermehrt. Es sind Versuche, Kritiker*innen in Deutschland mundtot zu machen, einzuschüchtern und das Gefühl zu geben, auch in Deutschland nicht sicher zu sein. Mordpläne gegen Oppositionelle wurden glücklicherweise aufgedeckt – jedoch nicht von den Sicherheitsbehörden sondern von kurdischen Aktivist*innen. Einige der Oppositionellen müssen rund um die Uhr von der Polizei begleitet werden, weil akute Anschlagsgefahr besteht. All diese Vorfälle, diese Bedrohungen von Leib und Leben, haben mich und andere Oppositionelle nicht zum Schweigen gebracht, nicht eingeschüchtert, nicht verängstigt und nicht den Willen für Demokratie, Frieden und Freiheit gebrochen.
Warum sollte nun ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Verstoß des Vereinsgesetzes mich und viele andere Menschen einschüchtern, zum Schweigen bringen und davon abbringen, die heuchlerische Politik der Bundesregierung und die mörderische Politik der türkischen Regierung, die bis nach Deutschland reicht, zu kritisieren?
Ich bedaure meinen Post auf Twitter nicht und schon gar nicht meine Forderung „Weg mit dem Verbot der PKK“. Aufgrund eines Ermittlungsverfahrens werde ich nicht meine Meinung dazu ändern und schon gar nicht ab sofort dazu schweigen. Im Gegenteil – ich werde den Widerstand in Afrîn weiterhin mit aller Kraft unterstützen, indem ich unter anderem mit vielen Menschen in Deutschland auf die Straße gehe und demonstriere. Zu diesen Demonstrationen und Aktionen rufe ich auf und hoffe auf eine breite Unterstützung der hiesigen Gesellschaft für die Widerstand leistenden Menschen in Afrîn!“