Die Zwangsverwaltungen in Kurdistan und der Türkei – Teil I

Erdoğan hatte schon vor Jahren erklärt: „Ich will Diyarbakir, ich will Van, ich will Mardin“. In den verschiedenen Wahlen fiel dieser Wunsch mit Pauken und Trompeten durch, seit 2015 wird er nun mit Gewalt durch Zwangsverwaltungen der Städte durchgesetzt.

Durch die Absetzung und Inhaftierung von Ko-Vorsitzenden politischer Parteien, Abgeordneten, Ko-Bürgermeister*innen und Zehntausenden Politiker*innen und Parteimitgliedern wird deutlich, dass Erdoğans Staatsapparat auf einen politischen Auslöschungsplan setzt.

Die AKP-Regierung hatte am 14. April 2009 mit einem gnadenlosen Angriff auf die kurdische Opposition begonnen; innerhalb von drei Jahren waren etwa 10.000 kurdische Politiker*innen gefangen genommen worden. Von Bürgermeister*innen über Ko-Vorsitzende der Partei für Frieden und Demokratie (BDP), Journalist*innen, bis hin zu Führungspersönlichkeiten aus den zivilgesellschaftlichen Organisationen wurden alle inhaftiert, um einerseits die Beziehungen aller sozialen und politischen Vertreter*innen der Kurd*innen zur Gesellschaft abzuschneiden und andererseits zu verhindern, dass sie ihre politischen und gesellschaftlichen Aufgaben erfüllen konnten. Dieser Angriff zielte auf die Vernichtung der kurdischen politischen Aktivitäten ab und brachte die Kurd*innen in eine schwierige Phase, die trotz des Drucks dazu führte, dass sich der Widerstand verstärkte.

Die heutige Phase hat Ähnlichkeiten mit 2009. Aber sowohl in Ausmaß und Umfang, wie auch in Hinblick auf Quantität und Qualität, ist diese Phase noch gravierender. Die Ko-Vorsitzenden der politischen Parteien, die Abgeordneten, die Bürgermeister*innen, Zehntausende Politiker*innen wurden in Gefängnisse geworfen und es ist offensichtlich, dass dahinter ein politischer Vernichtungsplan steht.

Politische Vernichtungsangriffe

Die Angriffe auf die Partei der Demokratischen Regionen (DBP) und die Demokratische Partei der Völker (HDP) nahmen ab Juni 2015 an Fahrt auf. Besonders in den Monaten, in denen die militärischen Angriffe auf den Selbstverwaltungswiderstand stattfanden, stieg die Repression rapide an. Es wurden am Tag fast 50 Menschen aus dem politischen Bereich verhaftet. Man wollte das kurdische Volk einerseits militärisch und andererseits politisch brechen. Wenn man die andauernden Blockaden der kurdischen Städte als Nachbeben der militärischen Angriffe der vergangenen Jahre bewertet, dann versteht man die Dimension des andauernden politischen Vernichtungsfeldzugs. Die während des Dialogprozesses gesammelten kurdischen Politiker*innen wurden nach der Zerstörung dieses Prozesses und dem Beginn der Kämpfe gesammelt festgenommen und inhaftiert. Insbesondere nach den Kämpfen innerhalb des Staatsapparats am 15. Juli und der Ausrufung des Ausnahmezustands (OHAL) stiegen die Festnahmen und Inhaftierung jenseits auch nur der mindesten rechtlichen Normen und übertrafen die Rechtlosigkeit der vorherigen Phasen bei weitem.

Tradition des Widerstands

Das kurdische Volk führt seit Beginn der 1990er Jahre einen politischen Kampf um seine Forderungen nach Freiheit und Gerechtigkeit. Die DBP steht in der Tradition der vom türkischen Staat geschlossenen Parteien DEP, HEP, ÖZDEP, HADEP, DEHAP und DTP und ist in 42 Regionen der Türkei und Kurdistans organisiert. Die DEHAP hatte bei den Wahlen 1999 37 Stadtverwaltungen gewonnen und von den in deren Tradition stehenden Parteien im Jahr 2004 56 Stadtverwaltungen und im Jahr 2009 99 Stadtverwaltungen. Zuletzt bei den Regionalwahlen am 30. Mai 2014 wurden 102 Stadtverwaltungen gewonnen. Die Traditionslinie der DBP konnte die Anzahl der Stadtverwaltungen, in denen sie eine Mehrheit hatte, kontinuierlich steigern. Nachdem die DBP mit den Kommunalwahlen ein hohes Niveau gewonnen hatte, begann mit dem Widerstand der demokratischen Selbstverwaltung 2016 eine neue Phase. Die AKP kriminalisierte die DBP, stellte sie als Planerin des Widerstands dar und nahm die Stadtverwaltungen eine nach der anderen unter Zwangsverwaltung.

Aussagen der Inspektoren

Bevor die AKP die Städte unter Zwangsverwaltung stellte, wurden 10–15-köpfige Delegationen von Inspektoren, die aus Gouverneuren und Landräten bestanden, in die Stadtverwaltungen geschickt. Diese Delegationen, suchten gezielt nach einem Vorwand, um alle DBP-Stadtverwaltungen Treuhändern zu übergeben. Allerdings konnten sie keine unethischen, korrupten oder ähnlichen Praktiken feststellen. Daraufhin wurden diese Delegationen immer wieder in die Stadtverwaltungen geschickt, sie kampierten regelrecht in den Gebäuden der Stadtverwaltungen. Sie mussten mit einer Entdeckung nach Ankara zurückkehren, welche die Ernennung eines Zwangsverwalters erlauben würde. Aber sie konnten keinen einzigen Anhaltspunkt finden. Anschließend wurden diese Ko-Bürgermeister*innen des Amtes enthoben und inhaftiert.

Angriffe auf die kommunalen Selbstverwaltungen

Nach der Ausrufung der Selbstverwaltung standen die Verantwortlichen der Stadtverwaltungen an der Seite der Bevölkerung. In Städten wie Amed Sûr, Cizîr, Nisêbîn und Farqîn wurde die demokratische Selbstverwaltung ausgerufen und Mitglieder der Stadtverwaltungen, die hinter der Bevölkerung standen, wurden inhaftiert. Einige wurden nach einiger Zeit freigelassen, andere befinden sich immer noch in Haft. Die vom Republikspräsidenten Erdoğan immer wieder wiederholten Worte „Ich will Diyarbakır, ich will Van, ich will Mardin“ wurden nun mit Gewalt umgesetzt.

Zeitgleich Zwangsverwaltungen verhängt

Es folgte ein Phase, in der der Druck der AKP auf das kurdische Volk und die kommunalen Selbstverwaltungen permanent aufrecht erhalten wurde. Insbesondere die Politik, die Stadtverwaltungen durch Treuhänderschaft der DBP unter verschiedenen Gründen zu rauben, gewann täglich an Schärfe. In den Städten, in denen die AKP keine Wahl gewinnen konnte, begann sie Treuhänder zu ernennen. In Amed Sûr, in Farqîn, in Bulanik in Gimgim und in Êlih wurden am 11. September 2015 über 28 Stadtverwaltungen eine Zwangsverwaltung verhängt. 24 dieser Stadtverwaltungen waren von der DBP regiert. Die anderen Stadtverwaltungen wurden mit der Gülen-Bewegung in Verbindung gebracht. Bei den 24 DBP Stadtverwaltungen von Orten wie Sûr, Cizîr, Nisêbîn, Farqîn, Eruh, Silopiya, Pirsûs und Dêrîk handelt es sich um Orte, an denen die DBP die meisten Stimmen erhalten hatte.

Die Zahlen Lauten:

* Amed Sûr — 54,41 Prozent

* Amed Farqîn (Silvan) — 69,55 Prozent

* Şirnex Cizîr — 81,61 Prozent

* Mêrdîn Nisêbîn — 78,78 Prozent

* Sêrt Dêh (Eruh) — 52.37 Prozent

* Şirnex Silopiya — 78,19 Prozent

* Riha Pîrsûs (Suruç) — 52,58 Prozent

* Mêrdîn Dêrik — 64,4 Prozent

Der politische Vernichtungsfeldzug geht weiter

Am 31. Oktober 2016 waren die Ko-Bürgermeister*innen von Amed Fırat Anlı und Gültan Kışanak inhaftiert worden. Insbesondere diese Inhaftierung löste in der gesamten kurdischen Bevölkerung und in den demokratischen Kreisen heftige Proteste aus. Während die Kurd*innen gegen diese Inhaftierungen protestierten, gingen die Angriffe auf die politischen Strukturen weiter. Am 24. Oktober wurde der als Friedenspolitiker besonders berühmte Ko-Bürgermeister von Mêrdîn Ahmet Türk festgenommen. Die folgende Inhaftierung des damals 74-jährigen, herzkranken Politikers löste große Bestürzung und wütende Reaktionen aus.

Die Angriffe zielen darauf ab, die Luftröhren des kurdischen Volkes sowohl politisch als auch gesellschaftlich zu blockieren und zeigen insbesondere auf regionaler Ebene die Realität des Faschismus.

Im Teil II wird es um die „Superbeamten“ der Besatzung gehen.