Die Türkei benutzt turkmenische IS-Mitglieder

Der türkische Staat hat turkmenische IS-Mitglieder und ihre Familien aus Flüchtlingslagern in Azaz und Idlib in die Türkei gebracht und freigelassen.

Am 27. Februar 2019 konnten die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) den IS-Dschihadisten Erkan Abdulrahman Hussein Mohammed (Abu Abdullah Iraqi) festnehmen, als sich dieser in die Türkei absetzen wollte. Der Dschihadist stammt aus Tel Afar im Irak und gehört der turkmenischen Bevölkerungsgruppe an. Wir hatten die Gelegenheit, den IS-Terroristen in Haft zu interviewen. Er berichtet, dass 75 Prozent der IS-Dschihadisten, die es geschafft haben, der Umzingelung im Irak und in Syrien zu entfliehen, sich in die Türkei geflüchtet haben. Abu Abdullah Iraqi berichtet von türkischen Soldaten, die turkmenische IS-Familien aus Camps in Azaz 2018 und 2019 in Idlib in die Türkei gebracht haben und dort freiließen. Der türkische Staat weist den turkmenischen IS-Dschihadisten in seinen Plänen für die Türkei und Syrien eine besondere Rolle zu, es soll ein turkmenischer Gürtel errichtet werden. Die Türkei ist mittlerweile zum sichersten Rückzugsgebiet der IS-Dschihadisten geworden.

Dschihadismus-Unterricht im US-irakischen Gefängnis von Bucca

Der IS-Dschihadist Erkan Abdulrahman Hussein Mohammed gehört bereits 2005 zu den Sympathisanten dschihadistischer Zellen im Irak, wird von US-Truppen festgenommen und im US-Gefängnis Bucca inhaftiert. Während seiner Haft wird er vom späteren IS-Gründungsmitglied Abu-Abdulrahman Ambari im Dschihadismus unterrichtet. Erkan Abdulrahman Hussein Mohammed war den USA unter dem Namen Muhammed Salih Yunus Attayi bekannt, er wird 2008 entlassen und heiratet eine turkmenische Frau. 2010 schließt er sich dem Al-Qaida-Ableger Islamischer Staat im Irak an.

Im Gefangenen-Komitee des IS

Er beginnt im IS-Komitee Hayat al-Asra für Gefangene zu arbeiten. Nach der Besetzung von Mosul durch den IS im Jahr 2014 ist er Teil der Gruppe, die öffentlich ihre Treue auf den IS schwört. Im IS ist er unter den Codenamen „Abbas Mektep“ und „Abu Abullah Iraqi“ bekannt. Zwischen 2014 und 15 arbeitet er im Gefangenenkomitee des IS. Im Jahr 2015 nimmt er eine Tätigkeit als Verwalter der IS-Provinz Jazira (Til Afar und Umgebung) für den Kommandanten Abu Ali Enze auf. Er geht nach Hajin in Nordostsyrien. Dort wird er einem Verwaltungszentrum tätig. Anschließend wird er auf Befehl des in QSD-Haft befindlichen Baghdadi-Stellvertreters Taha Abdulrahim Abdulla (Hadschi Abdulnasir) wieder ins Komitee für „Gefangene und Gefallene“ versetzt.

Türkischer Geheimdienst gibt ihm neue Identität

Bevor Til Afar umstellt wurde, schickte er seine Familie nach Mosul, damit sie sich dort den Peschmerga ergebe. Während er sich dann in Hajin in Nordostsyrien aufhielt, organisierte er den Transfer seiner Familie über Schmuggler aus dem von Peschmerga kontrollierten Camp Hamam Ali im Irak in die Türkei. Abu Abdullah Iraqi erzählt, dass in der Türkei die Familien von zehntausenden IS-Dschihadisten leben und seine Familie in einem Apartment in Ankara wohne.

Der Dschihadist berichtet, dass die in der Türkei lebenden turkmenischen IS-Familien die Turkmenische Front im Irak finanziell unterstützen. Er fährt fort: „Unsere Familien sind in der Türkei frei, aber die Frauen können sich entspannter als die Männer bewegen. Die Männer haben immer die Sorge, erkannt zu werden. Da das Leben in der Türkei teuer ist, mussten manche Familien in den Irak zurückkehren. Die Mehrheit lebt aber dennoch weiter in der Türkei. Der türkische Geheimdienst hat ihnen Flüchtlingsausweise gegeben. Er weiß, wo sie leben und hat auch ihre Telefonnummern. Wenn die Familien in eine andere Stadt gehen, dann informieren sie den Geheimdienst sofort darüber.“

Geld für 4.000 turkmenische Familien

Abu Abdullah Iraqi berichtet, dass sie, nachdem sie nach Hajin gegangen waren, auf Befehl des hochrangigen IS-Kommandanten Taha Abdurahim Abdullah (Haci Abdulnasır) begonnen hatten, Geld an die turkmenischen Familien in der Türkei zu schicken. Er erzählt: „Als ich 2017 nach Hajin ging, war ich in der Gesamtverwaltung tätig. Eines Tages kam Abu Mugheyya zu mir und sagte, Haci Abdulnasir wolle mich sehen. Haci Abdulnasir wollte, dass ich zu den Märtyrern und Gefangenen von Til Afar arbeite. Wir schickten den Familien der Märtyrer alle sechs Monate Geld. 90 Prozent der turkmenischen Familien aus Til Afar waren in der Türkei. Ich hatte den Befehl, ihnen Geld zu schicken, von Haci Abdulnasir erhalten. Manche von uns hatten sich sogar Villen gemietet, aber wir schickten jedem einzelnen von ihnen als Miete höchsten 100 Dollar pro Person. Die große Mehrheit hatte mehrere Frauen. Sie bekamen für jede Frau 50 Dollar und für jedes Kind 25 Dollar. Wir zahlten sechsmonatlich Gelder an etwa 4.000 turkmenische Märtyrerfamilien. Die Gelder wurden ihren Verwandten hier oder Geldübermittlern übergeben.“

Türkei brachte IS-Familien aus Camps in die Türkei

Der Dschihadist berichtet, wie das türkische Militär 2018 und 2019 turkmenische IS-Familien aus den Flüchtlingslagern in Azaz und Idlib holte und in die Türkei brachte. Er führt aus: „Sie haben die syrischen und irakischen turkmenischen Familien genommen und nach Ankara und an andere Orte gebracht. Unter ihnen befanden sich sehr viele IS-Familien. Bei manchen war der Mann verstorben, bei anderen war der Mann im Irak gefangen. Sie haben diese Familien mitgenommen und in der Türkei freigelassen. 2018 wurden alle turkmenischen Familien aus den Camps in Azaz vom türkischen Militär in die Türkei gebracht. Ich war damals in Hajin. Ein Freund neben mir hatte mit seiner Familie gesprochen und war sehr glücklich. Sie haben alle freigelassen. Später sagten dies auch andere Freunde mit Familien in diesem Camp. Während meiner Gefangenschaft hier hat mir auch ein anderer IS-Gefangener aus dem Irak erzählt, dass die Turkmenen 2019 aus dem Camp in Idlib von türkischen Soldaten in die Türkei gebracht worden seien. Es waren ausschließlich turkmenische Familien. Unter ihnen gab es nur sehr wenige normale Flüchtlinge, bei der Mehrheit handelte es sich um turkmenische IS-Familien. Die Männer einiger der Frauen im Camp waren bei den FSA gefangen und der türkische Geheimdienst wusste, dass es sich bei ihnen um IS-Familien handelte.“

Die Mehrheit der IS-Dschihadisten ging in die Türkei

Abu Abdullah Iraqi fährt fort und berichtet, dass während der Kämpfe um Til Afar und dann um Hajin zehntausende IS-Dschihadisten und Familien in die Türkei gereist sind. Er sagt: „75 Prozent derjenigen, welche sich aus der Umzingelung im Irak und Syrien befreien konnten und nicht erwischt wurden, sind in die Türkei gegangen. Da die Mehrheit der IS-Dschihadisten und ihre Familien in der Türkei waren, wurden Anschläge in der Türkei ab Ende 2018 verboten. Dies haben mir meine IS-Freunde in der Türkei berichtet.“

Auf dem Weg in die Türkei festgenommen

Abu Abdullah versuchte selbst mit seiner Zweitfrau und ihren gemeinsamen Kindern mit Hilfe eines Schmugglers in die Türkei zu kommen. Als sie am 27. Februar 2019 aus Hajin zu fliehen versuchten, wurden sie von den QSD festgenommen. Das erste was er über seine Festnahme berichtet, ist, dass er in die Türkei wollte. Gefragt nach dem Grund antwortet er: „Nicht in die Türkei, ich wollte nach Idlib. Ich habe Haci Abdulnasir gesagt, dass ich Hajin verlassen werde. Er hat es erlaubt. Ein IS-Freund hat mir gesagt, dass die Bedingungen in der Türkei gut seien und dass ich dorthin gehen könnte. Aber ich befürchtete, dass ich dort nicht in arbeiten könnte, da ich in Bucca eingesessen habe und ich daher bekannt bin. Daher wollte ich nach Idlib. Ein anderer Freund sagte mir, die Grenze zwischen der Türkei und Idlib sei sehr sicher. Ich wollte mit meiner Familie dort hingehen und mich dort niederlassen.“

Die Emire sind einfach abgehauen und ließen uns zurück

Abu Abdullah Iraqi sagt, im Nachhinein betrachtet würde er heute nicht mehr dem IS beitreten: „Ab 2017 sind unsere Emire alle abgehauen und haben uns verlassen. Sie haben sich selbst von vertrauenswürdigen Schmugglern in sichere Gebiete bringen lassen. Um zurückzuschlagen, sind nur die Armen wie wir geblieben. Als ich das erlebte, wollte ich es selbst nicht glauben. Sie haben Frauen und Kinder, alle in der Einkreisung zurückgelassen. Wenn wir gewusst hätten, dass es so sein würde, hätten wir uns nicht angeschlossen.“

Warum insbesondere turkmenische Dschihadisten?

Die turkmenische Bevölkerung spielt in den Plänen des türkischen Krieges seit dem Beginn des Bürgerkriegs eine besondere Rolle. Wenn möglich sollten sie einen turkmenischen Staat gründen, wenn nicht, dann sollten die Turkmenen zumindest für die türkischen Interessen in Syrien benutzt werden. Aus diesem Grund gründete der MIT Gruppen wie die Sultan-Murad-Brigade, die Süleyman-Şah-Brigade und noch viele andere kleinere Milizen.

Auf einem Treffen, an dem Erdoğan selbst in Ankara am 30.März 2013 teilnahm, wurde der Syrisch-Turkmenische-Rat gegründet. Durch diesen Rat wurde versucht, die Gründung eines turkmenischen Staatsgebildes in Syrien Schritt für Schritt auf die Tagesordnung zu bringen. Der türkische Staat stützte den IS mit allen Mitteln, um gegen die Selbstverwaltung und die Bevölkerung Nordsyriens vorzugehen und begann ab 2016 mit der Invasion in der Şehba-Region, die IS-Dschihadisten unter dem Banner der „FSA“ zu reorganisieren. Der MIT platzierte IS-Dschihadisten in praktisch allen Gruppen. Dabei vertraute der türkische Staat am meisten auf die turkmenischen IS-Terroristen. Diese wurden in die turkmenischen Gruppen eingegliedert. Einen besonderen Schub an Rekruten aus dem IS bekam die Türkei bei der Befreiung von Minbic und der Vertreibung des IS durch die Verteidigungseinheiten YPG/YPJ. Die Mehrheit der geflohenen IS-Dschihadisten wurde in polizeiliche und militärische Strukturen bzw. in die „FSA“ eingegliedert. Seit 2017 ist die Türkei das sicherste Rückzugsgebiet für IS-Dschihadisten. Das Land öffnete seine Grenzen für sie. Seit März 2019 werden die IS-Familien und IS-Dschihadisten gesammelt, und sie werden gemeinsam als Flüchtlinge in Camps untergebracht.

Der türkische Staat stationierte die turkmenischen Milizen, in denen sich besonders viele IS-Mitglieder tummeln, in den Gebieten Dschabal Akrad, Dschabal Turkman, am Grenzübergang Bab al-Hawa, in Ayntarib, innerhalb von Efrîn in Cindirês, Bilbilê und Şera, in Azaz am Grenzübergang Bab al-Salama und in den Gebieten an der Grenze bei Cerablus. Mittlerweile beginnt die Ansiedlung und Stationierung solcher Truppen auch entlang der Grenze im besetzten Gebiet zwischen Girê Spî (Tall Abyad) und Serêkaniyê (Ras al-Ain). Viele der turkmenischen IS-Familien warten auf eine Ansiedlung dort. In einer Recherche unseres Korrespondenten Ersin Çaksu heißt es, dass die Generaldirektion für Migration, koordiniert vom türkischen Geheimdienst MIT, in Istanbul, Hatay, Antep und Urfa damit begonnen hat, in Unterbringungen für Geflüchtete die Umsiedlung auf den besetzten Korridor von Serêkaniyê nach Girê Spî vorzubereiten.