Bayik: Wir kämpfen gegen die NATO

Der Krieg in Kurdistan hat nicht mit der türkischen Invasion im April begonnen. Er begann, als Biden und Barzanî 2016 in Ankara waren. Die NATO hat diesen Krieg beschlossen und die Türkei setzt den Beschluss um, meint Cemil Bayik (KCK).

Cemil Bayik hat sich als Ko-Vorsitzender des Exekutivratsrat der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) am Montag in einer Sondersendung bei Stêrk TV zu aktuellen Themen geäußert. Wir veröffentlichen einen Ausschnitt des ausführlichen Interviews, in dem es um den totgeschwiegenen Krieg in Kurdistan und die NATO geht:

Der Krieg in [den südkurdischen Regionen] Zap und Avaşîn hat nicht am 14. oder 17. April dieses Jahres begonnen. Tatsächlich begann er am 26. August 2016. An diesem Tag, als die Türkei [die nordsyrische Stadt] Cerablus angriff, waren Biden [als US-Vizepräsident] und Mesûd Barzanî (PDK-Vorsitzender und damaliger Präsident der Kurdistan-Region Irak] in Ankara. Es ist also klar, dass die USA, die Türkei und die PDK diese Entscheidung gemeinsam getroffen haben. Auf der Grundlage ihrer gemeinsamen Entscheidung griff die Türkei Cerablus an. Seit jenem Tag hat sich diese Politik fortgesetzt. Infolgedessen geht die Politik gegen das kurdische Volk in Nordkurdistan weiter, in Rojava wurden Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî besetzt, genau wie Cerablus und Bab, und in Südkurdistan wurde ein Besatzungsversuch gestartet. Auch die aktuellen Ereignisse in Zap und Avaşîn sind ein Ergebnis dieser Politik.

Es mag also so aussehen, als führe die Türkei den Krieg in Zap und Avaşîn, aber in Wirklichkeit ist es die NATO. Wir kämpfen gegen die NATO. Nicht nur heute, sondern schon seit der Gründung der PKK kämpfen wir gegen die NATO. Da die Türkei Mitglied ist, erhält sie sehr umfassende Unterstützung von der NATO. Ohne diese Hilfe hätte die Türkei diesen Krieg nicht bis heute führen können. Die NATO ist diejenige, die diesen Krieg beschlossen hat, und die Türkei setzt diesen Beschluss in die Tat um. Und die PDK arbeitet mit der Türkei im Einklang mit dieser NATO-Entscheidung zusammen.

Ein Krieg von existenzieller Bedeutung

Der Krieg in Zap und Avaşîn ist nicht nur eine Operation, wie sie behaupten. Ihn als Operation zu bezeichnen, ist einfach ein Versuch der Täuschung. Dies ist ein großer Krieg. Ich kann ganz klar sagen, dass der gegenwärtige Krieg in Zap und Avaşîn nicht mit dem Krieg zu vergleichen ist, den die Türkei bisher gegen uns geführt hat. Er ist völlig anders. Sowohl der türkische Staat als auch die AKP/MHP-Regierung betrachten diesen Krieg als strategisch für sich selbst. Sie betrachten ihn als einen Krieg, der über ihr Überleben entscheiden wird oder nicht. Deshalb haben sie alle ihre Ressourcen innerhalb und außerhalb des Landes für diesen Krieg mobilisiert, um an der Macht zu bleiben und den türkischen Staat auf den Beinen zu halten. Das ist der Grund, warum sie die modernste Technologie einsetzen und eine riesige Zahl von Truppen stationiert haben. Es ist ihnen einfach egal, wie viele ihrer Soldaten und islamistischen Stellvertreter dort sterben. Ihr Auftrag ist klar: „Ihr müsst Ergebnisse erbringen." Deshalb setzen sie Kriegsflugzeuge, Drohnen, Hubschrauber, Artillerie und chemische Waffen ein, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen.

Mîsak-î Mîllî: Was der türkische Staat als eigenes Gebiet definiert

Ihr Ziel in diesem Krieg ist es, die PKK zu zerschlagen und so ihre völkermörderische Politik durchführen zu können. Aber das ist nicht ihr einziges Ziel. Während des Ersten Weltkriegs haben die Osmanen viel Territorium verloren. Deshalb zogen sie eine Grenze, die sie Mîsak-î Mîllî [Nationalpakt] nannten. Innerhalb dieser Grenzen wollten sie ihren Staat wieder errichten und ihre Vorherrschaft fortsetzen. Doch aufgrund des Vertrags von Lausanne kam es nicht dazu, und sie verloren einige der Gebiete, die sie als Teil der Mîsak-î Mîllî als ihre eigenen definiert hatten. Der türkische Staat hat dies nie akzeptiert. Deshalb sagen Erdogan und Bahceli, dass sie die Grenzen der Mîsak-î Mîllî erreichen müssen. Sie halten die derzeitigen Bedingungen in der Welt und im Nahen Osten für geeignet, um dieses Ziel zu erreichen.

Um dies zu erreichen, wollen sie die PKK zerschlagen und einen Völkermord an den Kurdinnen und Kurden verüben. Denn wenn sie in dieser Hinsicht keine Ergebnisse erzielen, werden sie ihr Ziel nicht erreichen können. Der derzeitige Krieg in Zap betrifft also nicht nur die Kurden, sondern alle Völker in der Region. Wenn die PKK und das kurdische Volk einen entscheidenden Schlag erleiden, werden alle großen Schaden erleiden und niemand wird sich auf den Beinen halten können. Dann wird sich der AKP/MHP-Faschismus in der ganzen Türkei durchsetzen können.

Die AKP/MHP-Regierung wird stürzen

Erdogan und Bahceli setzen nicht nur die türkische Armee ein, sondern auch islamistische Stellvertreterkräfte. Dieselben Stellvertreterkräfte, die sie in Libyen und Aserbaidschan eingesetzt haben, nutzen sie nun, um diesen Krieg [in Zap und Avaşîn] zu führen. Und sie setzen auch Dorfschützer aus der Türkei ein. Mit Hilfe all dieser Kräfte und unter Einsatz von chemischen Waffen wollen sie Ergebnisse erzielen. Die HPG und die YJA-Star-Guerilla leisten heldenhaften Widerstand gegen diese Angriffe. Der türkische Staat hatte geplant, mit seiner großen Streitmacht und mit Hilfe schwerer Bombardierungen schnell Ergebnisse zu erzielen. Nach seinen Plänen hätte er damit die Kontrolle über Zap übernommen und seine neo-osmanischen Bestrebungen weiterverfolgt. Aber die Guerilla hat diesen Plan vereitelt und dieser Politik keinen Erfolg beschert. Sie hat dem türkischen Staat schwere Schläge versetzt.

Das Zentralkommando [der HPG] veröffentlicht täglich, wöchentlich und monatlich Bilanzen des Krieges. Daraus geht klar hervor, dass der türkische Staat weiterhin schwere Schläge einstecken muss. Die AKP/MHP-Regierung wollte vorgezogene Wahlen durchführen und hat alle Mittel eingesetzt, um dies zu ermöglichen. Sie ist jedoch nicht in der Lage, in der Zap-Region etwas zu erreichen. Zap wird für sie zu einem Friedhof werden und die AKP/MHP-Regierung wird stürzen. Deshalb müssen alle davon absehen, enge Beziehungen zu Erdogan und Bahceli zu unterhalten und ihre Politik zu unterstützen. Wer ihre Politik weiterhin unterstützt, wird verlieren. Bei den Kurdinnen und Kurden gilt dies für die PDK und in der Türkei für die CHP und die Iyi Parti. Wer dieser Regierung nahe steht und ihre Politik unterstützt, wird verlieren.

„Deshalb kämpfen wir gegen die NATO“

Vor aller Augen werden jeden Tag chemische Waffen eingesetzt. Aber alle schweigen einfach. Eine Delegation wollte den Einsatz von Chemiewaffen in den betroffenen Gebieten untersuchen, aber England hat dies verhindert. Warum verhindert England eine solche Delegation? Weil, wenn diese Delegation kommt und den Einsatz von Chemiewaffen dokumentiert, das für England zu einem Problem wird. Deshalb will England nicht, dass die Wahrheit ans Licht kommt. England versorgt die Türkei auch mit neuen Waffen. Das haben Medienberichte gezeigt. Die USA, England, Deutschland und Israel stehen hinter diesem Krieg. Und die PDK arbeitet mit der Türkei im Einklang mit der Entscheidung dieser Kräfte. Die NATO ist also aktiv in diesen Krieg involviert und deshalb ist dies ein Krieg gegen die NATO.

Drohender Zerfall des Irak

Der Irak ist schwach. Jeder sieht das und will von dieser Situation profitieren. Viele Mächte üben Druck auf den Irak aus und einige greifen sogar direkt in das Land ein. Sie wollen ihren Einfluss im Irak ausbauen und so dem irakischen Staat ihre Politik aufzwingen können. Der Irak hat zum aktuellen Krieg im Zap geschwiegen. Er hat zwar einige Erklärungen abgegeben, aber nur, weil er keine andere Möglichkeit hatte. Hätten sie keine Erklärungen abgegeben und ihre Kritik nicht geäußert, hätten weder die irakische Bevölkerung noch die arabischen Völker dies akzeptiert. Deshalb haben sie eine Erklärung abgegeben, um Proteste des irakischen und arabischen Volkes zu vermeiden. Aber ihre Erklärungen waren sehr schwach. Die Türkei, die PDK und die USA wissen das sehr genau und wollen von der Schwäche des Irak profitieren. Der irakische Luftraum steht unter der Kontrolle der USA. Ohne die Zustimmung der USA könnte die türkische Luftwaffe den Irak und Südkurdistan nicht überfliegen. Die türkischen Kriegsflugzeuge und Hubschrauber können das Gebiet nur auskundschaften und bombardieren, weil die USA den irakischen Luftraum für sie geöffnet haben. Das zeigt deutlich, dass die NATO und die USA hinter diesem Krieg stehen. Denn die Türkei ist ein NATO-Mitglied. Ohne die Zustimmung der NATO kann die Türkei Südkurdistan und Rojava nicht auf diese Weise angreifen, sie kann keine Städte und Gebiete unter ihre Kontrolle bringen, sie bombardieren, Wälder abholzen und das Gebiet entvölkern.

Diese Politik stellt eine große Bedrohung für den Irak dar und ebnet den Weg für den Zerfall des Landes. Sowohl die irakische Bevölkerung als auch die arabischen Völker müssen dies erkennen. Sie müssen die Koalition zwischen den Kurden und den Arabern als lebenswichtig für sich selbst begreifen. Wenn sie dies tun, werden sie in der Lage sein, sich gegen den Neo-Osmanismus zu stellen, Demokratie und Freiheit in ihrem Land zu fördern und es zu schützen.

Schaden der PDK-Politik für das kurdische Volk

In der Vergangenheit gab es eine türkische Fernsehsendung namens ,Anadolu'dan Görünüm`. Das Hauptziel dieser Sendung war es, einen Sonderkrieg gegen unser Volk und unsere Bewegung zu führen. Durch die Verbreitung von falschen und irreführenden Nachrichten wollten sie unser Volk und die anderen Völker manipulieren. So führten sie einen sehr schmutzigen Krieg. Heute verbreiten die PDK-Medien Nachrichten, die den einst von ,Anadolu'dan Görünüm' verbreiteten Nachrichten sehr ähnlich sind. Die Nachrichten der PDK-Medien sind völlig identisch. Dies zeigt deutlich, dass sie von der Türkei ausgebildet wurden, um das kurdische Volk und die internationale Öffentlichkeit zu täuschen. Die PDK-Medien führen also eine besondere Kriegsführung. Die PDK muss von dieser Politik Abstand nehmen. Diese Politik dient nicht den Interessen der PDK und des kurdischen Volkes. Das kurdische Volk steht heute vor einer historischen Chance und kann durch den Aufbau seiner nationalen Einheit die Freiheit erlangen. Trotz unserer Aufrufe arbeitet die PDK mit dem türkischen Staat zusammen und dient dessen Politik. Damit hat die PDK ihr gesamtes Ansehen im kurdischen Volk, in der Bevölkerung der Region Behdînan und auch innerhalb der PDK selbst zerstört.

Wir sagen nicht, dass die PDK uns unbedingt unterstützen muss. Wenn sie das tut, wäre das natürlich gut. Aber wir bitten sie einfach, nicht dem türkischen Staat und seiner auf einen Völkermord abzielenden Politik zu dienen.

Tödlicher Anschlag auf Mehmet Zeki Çelebi in Silêmanî

Ich möchte Mehmet Zeki Çelebi respektvoll gedenken. Er war ein wahrer Patriot. Der MIT [türkischer Geheimdienst] hatte ihn bedroht. Aber er hat diese Drohungen im Fernsehen öffentlich gemacht und damit genau die richtige Haltung gezeigt. Er hat die Politik des türkischen Staates gegen patriotische Kurdinnen und Kurden öffentlich gemacht und davor gewarnt, auf die Spiele der Besatzer hereinzufallen. Ich möchte seiner Familie und seinen Freundinnen und Freunden und auch dem kurdischen Volk mein Beileid aussprechen. Ich möchte auch alle kurdischen Patriotinnen und Patrioten grüßen, die sich weigern, dem türkischen Staat nachzugeben, die sich dafür entscheiden, in Kurdistan zu bleiben, in Silêmanî und Behdînan zu arbeiten und den Erpressungen und Drohungen von MIT und Parastin [Geheimdienst der PDK] nicht nachzugeben. Das ist genau das, was eine patriotische und revolutionäre Haltung ausmachen muss.

Mit diesen Anschlägen will der türkische Staat folgende Botschaft senden: „Es gibt keine Stabilität in Südkurdistan. Wenn ihr auf eurem Patriotismus beharrt, werdet ihr nicht am Leben bleiben." Mit dieser Botschaft sollen patriotische Menschen und das Volk von Südkurdistan eingeschüchtert werden. Deshalb dürfen die patriotischen Menschen aus Nordkurdistan, die sich in Südkurdistan niedergelassen haben, angesichts dieser Politik des türkischen Staates keinen einzigen Schritt zurückweichen.