Öcalan-Entscheidung im Europarat: Klartext Richtung Ankara

Nach der Sitzung des Ministerkomitees steht die Türkei nun auch im Fall von Abdullah Öcalan und drei weiteren politischen Gefangenen im Konflikt mit dem Europarat. Hintergrund ist die Weigerung, „Lebenslänglichen“ das Recht auf Hoffnung einzuräumen.

Nach der Sitzung des Ministerkomitees des Europarats sind derzeit alle Blicke auf Ankara gerichtet. Im Fall des seit vier Jahren ohne Urteil inhaftierten Bürgerrechtlers Osman Kavala hatte das Beschlussorgan des Europarats diese Woche einem Strafverfahren gegen die Türkei zugestimmt. Hintergrund ist die Missachtung einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), Kavala aus der Haft zu entlassen. Hinsichtlich der fortgesetzten Inhaftierung des kurdischen Politikers Selahattin Demirtaş, der ebenfalls trotz entsprechendem Urteil des EGMR noch immer im Gefängnis ist, forderte das Ministerkomitee gleichermaßen zum wiederholten Male dessen Freilassung.

Im Konflikt mit dem Europarat steht die Türkei nun aber auch im Fall von Abdullah Öcalan, der seit inzwischen acht Monaten wieder von seiner Außenwelt isoliert wird, sowie drei weiteren politischen Gefangenen: Hayati Kaytan, Emin Gurban und Civan Boltan. Ihre Haftsituation war ebenfalls Gegenstand der jüngsten Sitzung des Ministerkomitees, das als Entscheidungsorgan des Europarats die Umsetzung von Urteilen des Straßburger Menschengerichtshofs überwacht. Mitgliedstaaten wie die Türkei sind verpflichtet, EGMR-Entscheidungen umzusetzen, andernfalls kann das Land ausgeschlossen werden.

Die Fälle von Öcalan und Co, die auch bekannt sind als „Gurban-Gruppe“, auf die Tagesordnung des Ministerkomitees gerückt hatten mehrere zivilrechtliche Organisationen aus der Türkei. In einem entsprechenden Antrag wiesen sie das Gremium darauf hin, dass die türkische Regierung keines der Urteile zur Haftsituation dieser Gefangenen befolgt habe und Anordnungen, die nationale Rechtsprechung anzupassen, gleichermaßen unbeachtet lasse.

Europäische Rechtsprechung zur Gurban-Gruppe

Zum Hintergrund: Am 18. März 2014 urteilte der EGMR, dass die Türkei mit der Verhängung einer nicht reduzierbaren lebenslangen Freiheitsstrafe gegen Abdullah Öcalan gegen das Verbot einer unmenschlichen und erniedrigen Behandlung und damit gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoßen hat. Öcalan, der 1978 die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gründete, war im Juni 1999, nur vier Monate nach seiner völkerrechtswidrigen Verschleppung aus Kenia in die Türkei, wegen „Hochverrats“ zum Tode verurteilt worden. Da die Türkei 2002 die Todesstrafe abgeschafft hat, muss Öcalan nun eine „verschärfte“ lebenslange Freiheitsstrafe absitzen, ohne jegliche Aussicht auf vorzeitige Entlassung. Laut dem EGMR müssen lebenslänglich Verurteilte aber zumindest Aussicht auf eine vorzeitige Haftentlassung haben. Die Strafe muss reduzierbar sein und einer Nachprüfung unterzogen werden können. Dies ist aber weder bei Öcalan, noch den anderen Gefangenen aus der Gurban-Gruppe, die ebenfalls bis zum Tod im Gefängnis bleiben sollen und dagegen erfolgreich in Straßburg geklagt hatten, nicht der Fall. Zwar kann der türkische Präsident bei hohem Alter oder Krankheit eines Gefangenen eine vorzeitige Entlassung veranlassen. Auch das türkische Parlament verabschiedet hin und wieder Amnestien. Dies reicht jedoch nicht aus, damit „Lebenslängliche“ konkrete Aussicht auf eine vorzeitige Haftentlassung haben, stellte der EGMR fest.

Emin Gurban (l.), Hayati Kaytan (o.) und Civan Boltan

Kein Kontrollmechanismus eingeführt

In der Praxis ist es in der Türkei nach wie vor so, dass Personen, die zu einer verschärften lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden sind, kein Mechanismus zur Verfügung steht, der eine nochmalige Überprüfung ihrer Strafe nach Verbüßung einer Mindesthaftzeit gestatten würde – und zwar dahingehend, ob (noch) legitime Gründe für die Aufrechterhaltung der Haft bestehen. Im Fall der Gurban-Gruppe hatte der EGMR angeordnet, dass die türkische Regierung ein Haftkontrollsystem einzurichten hat, durch das geprüft wird, ob ein Verbleib in Haft nach wie vor gerechtfertigt werden kann. Dafür müsste allerdings eine politische Kraft existieren, die eine Grundlage dafür schafft. In der von Recep Tayyip Erdogan geführten Türkei gibt es diese aber nicht. Insofern wurde auch nicht der von Straßburg geforderte Kontrollmechanismus geschaffen.

Ministerkomitee: Ankara muss unverzüglich Maßnahmen ergreifen

Die verweigerte Umsetzung dieser EGMR-Urteile hat das Ministerkomitee des Europarats nun veranlasst, endlich Klartext in Richtung Ankara zu sprechen. Nach seiner letzten Menschenrechtssitzung äußerte sich das Gremium am Freitag „besorgt“ darüber, dass die türkischen Behörden bislang „keine sachdienlichen Informationen über die Maßnahmen vorgelegt haben, die zur Behebung der in diesen Urteilen festgestellten Verstöße vorgesehen sind“. Das Palastregime von Erdogan wird nachdrücklich aufgefordert, „unverzüglich die Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um den derzeitigen Rechtsrahmen in Einklang mit den vom EGMR festgelegten Standards zu bringen“.

Zeit bis September

Ferner verlangt das Ministerkomitee von der Türkei Auskunft über die Zahl der derzeit inhaftierten Gefangenen, die mit einer nicht reduzierbaren lebenslangen Freiheitsstrafe ohne Aussicht auf eine vorzeitige Entlassung belegt worden sind. Nach Angaben der Freiheitlichen Juristenvereinigung (ÖHD), des Menschenrechtsvereins (IHD), der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) und der Stiftung zur Untersuchung von Gesellschaft und Recht (TOHAV) - jene NGOs, die den Antrag zur Gurban-Gruppe im Europarat eingebracht hatten - sitzen derzeit 1.453 Menschen in der Türkei ohne Aussicht auf Haftentlassung im Gefängnis. Das Zeitfenster des Ministerrats ist lang: Bis spätestens Ende September 2022 sollen Auskünfte und Informationen über erzielte Fortschritte im Rahmen der geforderten Maßnahmen vorgelegt sein. Bei der letzten Quartalssitzung im kommenden Jahr will das Komitee dann prüfen, ob sich die Führung in Ankara an die Vorgaben gehalten hat.