Warum wird zu türkischen Chemiewaffen geschwiegen?

Es ist Heuchelei, einen Völkermord anzuerkennen und gleichzeitig einem anderen den Weg zu ebnen. Der türkische Staat setzt seit Monaten tödliche C-Waffen in Kurdistan ein. Warum wird zu diesem Verstoß gegen die Chemiewaffenkonvention geschwiegen?

Worum geht es den globalen Mächten heutzutage? Wollen sie wirklich wie behauptet eine humanistische Weltordnung oder soll ihr System nur den Interessen elitärer Kapitalisten und der Staatsbürokratie dienen? Welchen Wert haben Gesetze und das Völkerrecht?

Die heutige Weltordnung zu verstehen und zu benennen, ist wichtiger denn je. Sie ist kein System, das innerhalb eines Tages entstanden ist, sondern basiert auf eine Geschichte vieler Tausender Jahre. Über die beiden Weltkriegen in der jüngeren Vergangenheit wissen wir, dass sie in der Menschheitsgeschichte sowie in unserem ökologischen und gesellschaftlichen System riesige Zerstörung angerichtet haben. Wie lässt sich erklären, dass mit diesen Trümmern vor Augen im heutigen Technologie- und Kommunikationszeitalter erneut ein ähnlicher und noch zerstörerischer Weg eingeschlagen wird?

Die USA und die europäischen Staaten haben nach dem zweiten Weltkrieg eine neue Rechtsordnung gegründet, die auf dem Völkerrecht basiert und den Schutz der universellen Menschenrechte verspricht. Das wurde von den westlichen Staaten auch erwartet, denn die industrielle Revolution hatte sich zuerst im Westen entwickelt und sie besaßen das Monopol für die konventionelle Waffentechnologie. Chemie- und Nuklearwaffen wurden verboten. Ohne Europa und die USA konnte kein Staat im Mittleren Osten solche Waffen produzieren, dafür reichten die Infrastruktur und der Wissensstand nicht aus. Heute werden die Rohstoffe für Chemiewaffen aus Europa und den USA geliefert. Insofern liegt die Verantwortung bei diesen Staaten sowie bei den Vereinten Nationen und mit der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) den Vertragsstaaten des internationalen Chemiewaffenübereinkommens.

Eindeutige Berichte von Überlebenden

Dass der türkische Staat chemische Kampfstoffe einsetzt, ist in diesem Jahr erstmalig im Februar bei der Militäroperation im Guerillagebiet Gare in Südkurdistan bekannt geworden. Nach einem Gespräch zwischen Erdogan und Biden ist am 23. April eine weitere breit angelegte Operation in den Medya-Verteidigungsgebieten gestartet worden. Seit nunmehr sechs Monaten kommen dabei verschiedene Chemiewaffen zum Einsatz. Die in dieser Zeit erschienenen Berichte haben internationale Institutionen nicht zum Handeln bewegen können. Angeblich sollen dafür nicht ausreichende Belege vorliegen.

Die Pressestelle der Volksverteidigungskräfte (HPG) hat in den letzten Wochen öffentlich gemacht, dass die türkische Armee die Tunnelanlagen der Guerilla in der Region Avaşîn diverse Male mit einem neuen Kampfstoff angegriffen hat. Am Bergmassiv Werxelê sind dabei fünf Guerillakämpfer:innen ums Leben gekommen, am Girê Sor sechs. Außerdem wurden die Aussagen von drei Überlebenden des Giftgasangriffs am Girê Sor nahe der irakisch-türkischen Grenzlinie veröffentlicht. Zwei der Betroffenen sollen dabei schwer geschädigt worden sein. Aus den Schilderungen geht hervor, dass die türkische Armee tagelang verschiedene Gase ausprobiert und zusätzlich Explosionen ausgelöst hat, damit sich das Gas über die Druckwellen im Tunnel verteilt.

Warum schweigt die OPCW?

Die Frage, die sich alle kurdischen Institutionen und die demokratische Öffentlichkeit stellen sollten, ist die folgende: Warum schweigt die OPCW, eine internationale Institution mit besonderen vertraglichen Beziehungen zu den Vereinten Nationen, trotz so vieler Erkenntnisse immer noch? Es gibt nur einen Grund dafür: Zum Schutz des faschistischen türkischen Staates. Angesichts der Anschuldigungen und vorliegenden Berichte muss die OPCW sofort handeln. Vom türkischen Staat, der die Chemiewaffenkonvention unterzeichnet hat, muss eine offizielle Erklärung verlangt werden, und ein Expertenteam sollte eine Untersuchung in den oben genannten Gebieten einleiten. Der türkische Staat hat zugesagt, alle seine Verpflichtungen aus dem von ihm unterzeichneten Übereinkommen zu erfüllen. Mit der Überwachung zur Einhaltung der Konvention ist seit ihrem Inkrafttreten 1997 die OPCW beauftragt.

Die jüngsten Angriffe des türkischen Staates erinnern an die Anfal-Operation von Saddam Hussein im Jahr 1986. Das Saddam-Regime setzte zunächst chemische Waffen gegen Dörfer in den Bergregionen ein, in denen Peschmerga-Kräfte stationiert waren. Ermutigt durch das Schweigen der internationalen Institutionen und der Staaten der Welt setzte das Saddam-Regime als nächsten Schritt Massenvernichtungswaffen ein. Derzeit erleben wir wieder eine ähnliche Situation. Es sind dieselben Staaten und internationalen Institutionen, die das Erdogan-Regime ermutigen. Wenn es um die Guerilla geht, sucht niemand nach Legitimität, im Gegenteil, diese Situation veranlasst das Erdogan-Regime zu noch rücksichtsloseren Handlungen.

Es ist Heuchelei, einen Völkermord anzuerkennen und gleichzeitig einem anderen den Weg zu ebnen. Als vor 106 Jahren das armenische Volk mit den von den westlichen Staaten entwickelten Waffen einem Völkermord unterworfen wurde, haben alle diese Staaten aus eigenem Interesse geschwiegen. Der deutsche Staat hat nicht nur geschwiegen, er hat dem türkischen Staat sogar geholfen, die völkermörderischen Angriffe zu koordinieren, indem er seine eigenen Offiziere und Generäle in die Region entsandte. Wir sollten nicht zulassen, dass diese eigennützigen Gruppen uns denselben Film noch einmal vorführen, nur um ihrer eigenen Interessen willen. Deshalb sollten wir die internationalen Institutionen und insbesondere die USA und die europäischen Staaten auffordern, sich an ihre eigenen Gesetze zu halten.