UN bestätigen Kriegsverbrechen in besetzten Gebieten in Rojava

Ein UN-Bericht bestätigt, was die Menschen aus der türkischen Besatzungszone in Nordsyrien seit langem anprangern: Der türkische Staat und seine dschihadistischen Söldner begehen schwere Kriegsverbrechen in Efrîn und Serêkaniyê.

Seit Jahren thematisieren sowohl die Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens als auch Binnenflüchtlinge aus den von der Türkei besetzten Gebieten, insbesondere den Regionen Efrîn und Serêkaniyê (Ras al-Ain), die schweren Menschenrechtsverletzungen durch die türkische Armee und ihre Söldnertruppen. Von der Bundesregierung wurde die Lage vor Ort in Antworten auf parlamentarische Anfragen bisher relativiert und von der internationalen Öffentlichkeit weitgehend ignoriert. So haben der türkische Staat und seine Dschihadistentruppen freie Hand in Nord- und Ostsyrien. Nun haben die UN in einem Bericht in deutlichen Worten bestätigt, welche Verhältnisse in den türkischen Besatzungszonen herrschen. Der Bericht einer UN-Kommission für den UN-Sicherheitsrat stellt den türkischen Besatzern und ihren Milizen eine vernichtende Bilanz aus. Der Berichtszeitraum erstreckt sich vom 11. Januar 2020 bis zum 1. Juli 2020.

Koordinierte Plünderungen und Schutzgelderpressungen

Die UN sprechen von „koordinierten Plünderungen“ durch die Mitglieder der sogenannten „Syrischen Nationalarmee“ (SNA) in Efrîn und Serêkaniyê. Die SNA ist ein von der türkischen Armee ausgebildetes und vom Geheimdienst MIT zusammengehaltenes Konstrukt verschiedener rechtsextremer und dschihadistischer Milizen.

In dem UN-Bericht heißt es: „Nachdem das Eigentum geplündert worden war, besetzten Kämpfer der Syrischen Nationalarmee und ihre Familien Häuser, aus denen Zivilisten geflohen waren, oder zwangen Bewohner, vor allem kurdischer Herkunft, durch Drohungen, Erpressung, Mord, Entführung, Folter und Inhaftierung zur Flucht aus ihren Häusern.“

Rückkehrer musste eigene Einrichtung zurückkaufen

Das Plündergut wurde demnach von SNA-Milizionären auf Märkten verkauft oder in Gebäuden eingelagert. Die UN beschreiben, dass vieles auf ein koordiniertes Vorgehen der Milizen hindeute. So könne Plündergut ohne Probleme auch mit hochrangigen Mitgliedern der SNA besetzte Kontrollpunkte passieren. In dem Bericht ist ein solches Beispiel zu finden: „In einem solchen Fall fand im März ein Rückkehrer in das Dorf Tel al-Arisha sein Haus geplündert vor, alles war geraubt worden, einschließlich der Fenster, Türen und Generatoren. In anderen Häusern in der Straße, war das Gleiche passiert. Ein hochrangiges Mitglied der Division 24 (Sultan-Murad-Brigade) der Syrischen Nationalarmee verkaufte ihm seinen eigenen Hausrat aus einem Lagerhaus, das als Aufbewahrungsort für geraubte Güter diente, zurück. Er [Der Rückkehrer] floh unmittelbar danach.“

Vertreibungs- und Siedlungspolitik

Die UN berichten von Mitgliedern der Division 14 und Brigade 142 (Suleyman-Schah-Brigade) der SNA, die im September 2019 in Sheikh al-Hadid bei Efrîn von Haus zu Haus gingen und kurdische Familien mit weniger als drei Mitgliedern anwiesen, ihre Häuser zu räumen, um „Personen unterzubringen“, die von außerhalb Efrîns kommen. Mit „Personen“ dürften, wenn man es mit den Berichten aus Efrîn abgleicht, höchstwahrscheinlich die Angehörigen der aus Ost-Ghouta und Idlib nach Efrîn gebrachten Dschihadisten gemeint sein.

Andere waren dem UN-Bericht zu Folge von Angehörigen der Syrischen Nationalarmee gezwungen worden, als Voraussetzung für den Verbleib in ihren Häusern eine „Steuer“ zu zahlen. Auch die UN bestätigen, dass die Menschen erpresst werden, und schreiben von Beträgen zwischen 10.000 und 25.000 Lira, welche die Bevölkerung an die Milizen zahlen muss.

Beschlagnahmtes Haus zur Koranschule der IHH umfunktioniert

Die direkt unter der Kontrolle des Erdogan-Regimes stehende „Hilfsorganisation“ IHH ist für ihre Zusammenarbeit mit Islamisten berüchtigt. Sie hat dem UN-Bericht zu Folge in einem geraubten Haus einer kurdischen Familie in Serêkaniyê eine Koranschule eingerichtet. Das Haus war von der Al-Hamza-Brigade zuvor beschlagnahmt worden. Am 22. Juni wurde das Gebäude feierlich unter Be-teiligung des türkischen Gouverneurs der nordkurdischen Provinz Riha (türk. Urfa) als Koranschule eingeweiht. Serêkaniyê wurde an die türkische Provinzialverwaltung von Urfa angeschlossen.

Zwangsrekrutierung von Kindersoldaten

ANF hat schon mehrfach von der Zwangsrekrutierung von Kindersoldaten durch die SNA berichtet. Auch den UN sind solche Fälle bekannt und sie sprechen von Berichten vom Auslandseinsatz solcher Kindersoldaten. Damit ist höchstwahrscheinlich der Einsatz von Minderjährigen aus Syrien im libyschen Bürgerkrieg an der Seite des dortigen Muslimbruder-Regimes gemeint, wovon die Menschenrechtsorganisation von Efrîn bereits zuvor berichtet hatte.

Verschleppungen und Inhaftierungen

Personen, die sich über das Vorgehen der Besatzungstruppen beschwerten, wurden nach UN-Angaben häufig von SNA-Mitgliedern bedroht, erpresst oder inhaftiert. Wieder andere wurden entführt und es wurde Lösegeld für sie erpresst. Die Angehörigen mussten die Gelder direkt bei führenden SNA-Mitgliedern abgeben. Die UN kommentieren dazu: „Die Kommission ist nach wie vor besorgt über den weit verbreiteten und immer wiederkehrenden Einsatz von Geiselnahmen durch die Streitkräfte der Syrischen Nationalarmee.“

Insbesondere unter dem Vorwand von Verbindungen zur Autonomieverwaltung sind Zivilist*innen verschleppt worden. Die UN berichten von Vernehmungen durch türkische Beamte mit Hilfe von Übersetzern. Die meisten der Gefangenen in Efrîn seien in der dortigen Handelsschule inhaftiert.

Immer wieder wurden Gefangene auch in die Türkei verschleppt und dort wegen „Terrordelikten“ nach türkischem Recht angeklagt.

Systematische Folter und Misshandlung

Folter und Misshandlung im Gewahrsam der Besatzungstruppen sind alltäglich. Die UN erklären: „In Haft wurden Zivilisten - vor allem kurdischer Herkunft - geschlagen, gefoltert, ihnen wurde Nahrung oder Wasser verweigert und sie wurden über ihren Glauben und ihre ethnische Zugehörigkeit verhört.“

An der Decke aufgehängt und mit Schläuchen geschlagen

Die UN-Kommission schildert einen der ihr vorgetragenen Fälle: „Ein Junge beschrieb der Kommission, wie er Mitte 2019 von der Militärpolizei der Syrischen Nationalarmee in der Stadt Efrîn inhaftiert und fünf Monate lang im Hauptquartier der Syrischen Nationalarmee festgehalten wurde, bevor er in das Zentralgefängnis von Efrîn verlegt und im März 2020 freigelassen wurde. Während der Inhaftierung waren sowohl Angehörige der Syrischen Nationalarmee als auch türkischsprachige Beamte in Militärmontur anwesend. Der Junge wurde mit Handschellen gefesselt und an der Decke aufgehängt. Dann wurden ihm die Augen verbunden und er wurde wiederholt mit Plastikschläuchen geschlagen. Der Junge beschrieb, wie die Offiziere ihn über seine angeblichen Verbindungen zur Selbstverwaltung verhörten.“

Schläge und Vergewaltigungsdrohungen

„In einem anderen Fall wurden zwei Frauen im November 2019 bei der Rückkehr in ihre Häuser von der syrischen Nationalarmee an einem gemeinsam mit türkischen Beamten betriebenen Kontrollpunkt in der Region Ra's al-Ayn (kurd. Serêkaniyê) festgenommen. Eines der Opfer beschrieb, wie sie während eines Verhörs von Angehörigen der Syrischen Nationalarmee in Anwesenheit türkischer Beamter mit Vergewaltigung bedroht und auf den Kopf geschlagen worden war. Die Kommission erhielt auch Informationen über gemeinsame Verhaftungsaktionen, die von der Militärpolizei der Syrischen Nationalarmee und der türkischen Polizei in Efrîn durchgeführt wurden.“

Zwangskonvertierungen

Die UN konnten auch einen Fall von Zwangskonvertierung durch die SNA dokumentieren. Dabei wurde eine ezidische Frau von den SNA festgenommen und zur Konversion zum Islam gezwungen. Die Kommission untersucht im Moment den Fall von 49 zwischen November 2019 und Juli 2020 durch die SNA verschleppten kurdisch-ezidischen Frauen in Serêkaniyê.

Sexualisierte Gewalt und Folter

Die UN berichten auch vom gezielten Einsatz sexualisierter Gewalt als Foltermethode: „Während des Berichtszeitraums wurden Fälle sexueller Gewalt gegen Frauen und Männer in einer Haftanstalt in Efrîn dokumentiert. Bei zwei Gelegenheiten zwangen Offiziere der Militärpolizei der Syrischen Nationalarmee in einem offensichtlichen Versuch, männliche Häftlinge zu demütigen, ihnen Geständnisse zu entlocken und ihnen Angst einzujagen, dazu, der Vergewaltigung einer Minderjährigen beizuwohnen. Am ersten Tag wurde die Minderjährige damit bedroht, vor den Augen der Männer vergewaltigt zu werden, aber die Vergewaltigung fand nicht statt. Am folgenden Tag wurde dieselbe Minderjährige in einer Gruppenvergewaltigung vergewaltigt, wobei die männlichen Häftlinge geschlagen und gezwungen wurden, bei einer Tat zuzusehen, die einer Folter gleichkommt.“ Ein ähnlicher Fall einer Massenvergewaltigung war bereits zuvor aus der Einrichtung gemeldet worden.

Wiederholte Kriegsverbrechen

Die UN werfen Milizen der SNA vor, wiederholt Kriegsverbrechen in Efrîn und Serêkaniyê zu begehen. Die Tatbestände reichen von Plünderung über Geiselnahmen bis hin zu grausamer Behandlung, Folter und Vergewaltigung. Darüber hinaus hat die SNA kulturelles Eigentum zerstört und damit gegen das Völkerrecht verstoßen. Verantwortlich ist den UN zufolge aber auch die Türkei, die als Besatzungsmacht dafür verantwortlich ist, die Rechte der Bevölkerung der Region zu schützen.

Zur Verantwortung der Türkei heißt es weiter: „In diesem Zusammenhang nimmt die Kommission die Berichte zur Kenntnis, dass die türkischen Streitkräfte Kenntnis von Vorfällen der Plünderung und Aneignung zivilen Eigentums hatten und dass sie sich in Haftanstalten der syrischen Nationalarmee aufhielten, in denen die Misshandlung von Gefangenen grassiert. Dies gilt auch für die Verhöre, bei denen Folterungen stattfanden. Da die türkischen Streitkräfte in diesen Fällen nicht eingegriffen haben, haben sie möglicherweise gegen die oben genannten Verpflichtungen der Türkei verstoßen.“

UN: Strafverfolgung von Befehlshabern möglich

Die Kommission stellte außerdem fest, dass die Überstellung von syrischen Staatsangehörigen, die von der Syrischen Nationalarmee inhaftiert wurden, auf türkisches Territorium ein Kriegsverbrechen in Form der Deportation geschützter Personen darstellen kann. Weiter heißt es: „Solche Überstellungen sind ein weiterer Hinweis auf die Zusammenarbeit und gemeinsame Operationen zwischen der Türkei und der Syrischen Nationalarmee zum Zwecke der Inhaftierung und der Sammlung von Informationen. Die Kommission untersucht weiterhin das genaue Ausmaß, in dem verschiedene Brigaden der Syrischen Nationalarmee und die türkischen Streitkräfte eine gemeinsame Befehls- und Kontrollhierarchie gebildet haben, und stellt fest, dass, wenn sich herausstellt, dass Mitglieder einer bewaffneten Gruppe unter der wirksamen Befehls- und Kontrollgewalt der türkischen Streitkräfte handeln, Verletzungen durch diese Akteure eine strafrechtliche Verantwortung für die Befehlshaber nach sich ziehen können, die von den Verbrechen wussten oder hätten wissen müssen oder die es versäumt haben, alle notwendigen und angemessenen Maßnahmen zur Verhinderung oder Unterdrückung ihrer Begehung zu ergreifen.“ Hier halten die UN der Türkei eine Hintertür offen: Obwohl allgemein bekannt ist, dass die SNA unter dem Kommando der türkischen Behörden stehen, sind die UN nicht bereit zu diesem Zeitpunkt diese Verbindung einzuräumen.

Jelpke: Terrorpate Erdogan gehört vor Gericht

Die innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, Ulla Jelpke, erklärte zu dem Bericht: „Vergewaltigung, Folter, Entführungen und Plünderungen sind an der Tagesordnung in den von der Türkei und ihren dschihadistischen Söldnerbanden der sogenannten Syrischen Nationalarmee besetzten Gebieten in Nordsyrien. Der türkische NATO-Partner verletzt mit seinem Vorgehen in der Region Völker- und Kriegsrecht. Statt das AKP/MHP-Regime in der Türkei weiterhin mit Waffen und Geld zu stützen, muss die schmutzige Kollaboration der Bundesregierung mit den Kriegstreibern in Ankara umgehend beendet werden.“

Der UN-Bericht zeigt einmal mehr, wer die echten Terroristen sind“

Die Abgeordnete erklärte weiter: „Der UN-Bericht zeigt einmal mehr, wer hier die echten Terroristen sind. Nicht die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ, die legitimen Selbstverteidigungskräfte der Menschen in Nordsyrien, sollten kriminalisiert werden. Stattdessen gehört der Terrorpate Erdogan vor Gericht. Die Bundesregierung muss sich umgehend für einen Rückzug von Erdogans Mörderbanden aus Nordsyrien einsetzen.“