Selbstverwaltung: Angriffe deuten auf türkisch-russisches Abkommen hin

Unter stillschweigender Duldung Russlands eskaliert der türkische Staat seine Angriffe auf Ain Issa. Dies deutet auf ein Abkommen zwischen Ankara und Moskau zur Übergabe der Kleinstadt an das Regime hin, hält der Exekutivrat der Autonomieverwaltung fest.

Die Eskalation der Angriffe türkischer Besatzungstruppen auf Ain Issa unter stillschweigender Duldung von Russland deutet auf ein Abkommen zwischen Ankara und Moskau über eine mögliche Übergabe der nordsyrischen Kleinstadt an das Regime in Damaskus hin. Das sagte der Ko-Vorsitzende des Exekutivrats der Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens, Abid Hamed al-Mihbash, am Montag bei der Jahrestagung des beschlussfassenden Organs in Raqqa. Auf der Agenda des Treffens stand die aktuelle politische Situation in der Region, darüber hinaus wurde ein Bericht über die verschiedensten Aktivitäten im vergangenen Jahr vorgestellt.

Al-Mihbash hielt einleitend fest, dass die Arbeit der Autonomieverwaltung 2020 durch die fortgesetzte Invasion der Türkei und Brüche des im Oktober 2019 unter der Ägide Russlands und der USA entstandenen Waffenstillstandsabkommens erheblich eingeschränkt wurde. Dies hatte zur Folge, dass der türkische Staat und seine Dschihadistengruppen ihre Politik der Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen gegenüber der Bevölkerung Nordostsyriens fortsetzten. „Sowohl die Türkisierung als auch der demografische Wandel sind in den besetzten Gebieten vorangetrieben worden. Darüber hinaus hat der türkische Staat seine eigene Währung durchgesetzt. Das Völkerrecht wird vollkommen ignoriert“, so al-Bihbash. Die Mehrheit des syrischen Volkes sei heute auf der Flucht und gezwungen, ein „Nomadenleben“ zu leben. Als eine der Hauptursachen identifiziert der Exekutivrat der Autonomieverwaltung das Beharren des Regimes in Damaskus auf einer militärischen Lösung der Konflikte anstelle eines demokratisch-politischen Dialogs und die geduldete Anwesenheit der Besatzungstruppen auf syrischem Boden.

Destabilisierungsversuche durch Attentate

Ein großes Problem stellen zudem die Destabilisierungsversuche im Großraum Deir ez-Zor dar. Die Region im Osten von Syrien mit ihren reichen Öl- und Gasvorkommen befindet sich im Fadenkreuz des türkischen Staates und des syrischen Regimes. Durch gezielte Attentate von Schläferzellen gegen Mitarbeiter der Autonomiebehörden und angesehene Persönlichkeiten wie arabisch-sunnitische Stammesangehörige soll Deir ez-Zor geschwächt und die Bevölkerung gegen die Selbstverwaltung aufgebracht werden. Als Mittel zu diesem Zweck genießt nicht nur der „Islamische Staat (IS) die Unterstützung beider Mächte. Das syrische Regime setzt darüber hinaus eigene Agenten und Regierungstruppen ein.

Der türkische Staat eskalierte in den letzten Wochen seine Angriffe auf Ain Issa. Dies steht im Widerspruch des Sotschi-Abkommens, das im Oktober 2019 zwischen Ankara und Russland nach der Besetzung von Girê Spî und Serêkaniyê geschlossen worden war. Ain Issa hat strategische Bedeutung, denn es verbindet die Linien Kobanê-Raqqa, Kobanê-Cizîrê und Minbic-Cizîrê. Außerdem kann von Ain Issa auch die syrische Ostwestachse, die Schnellstraße M4, kontrolliert werden. Russland versucht, die türkischen Angriffe dafür zu nutzen, um eine Übergabe von Ain Issa an das Regime zu erzwingen. Als sich die Menschen in Ain Issa und die Selbstverwaltung dieser Erpressung nicht beugten, nahmen die Angriffe der Türkei weiter zu. Die Selbstverwaltung nimmt die Forderungen Russlands dennoch nicht an, denn sie sieht Ain Issa als „Pilotzone“ an, an deren Beispiel Russland und das Regime ihre Kontrolle im Falle eines Erfolgs über das gesamte selbstverwaltete Gebiet herstellen wollen.

 

Rückkehr der Vertriebenen ermöglichen

Mit Blick auf das Jahr 2021 betonte al-Mihbash, dass die Autonomieverwaltung alle Kraft auf einen konstruktiven Dialog mit der innersyrischen Opposition legen wolle, um eine politische Lösung für die Syrienkrise zu erreichen und die türkische Besatzung zu beenden, die Rückkehr der vertriebenen Bevölkerung zu ermöglichen und die Fortsetzung des innerkurdischen Dialogs sicherzustellen. „Viel Energie wollen wir zudem in die Entwicklung eines effizienten Selbstverteidigungssystem zum Zwecke des Selbstschutzes stecken. Als Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien ist es unser Ziel, ein vielfarbiges und dezentrales Syrien aufzubauen“, erklärte al-Mihbash.

Ilham Ehmed: Kritik an Verfassungskomitee

Die Exekutivausschussvorsitzende des Demokratischen Syrienrats (MSD), Ilham Ehmed, hob hervor, dass die Regierung in Damaskus ihre derzeitige Politik allein aufgrund der Zersplitterung innerhalb der syrischen Opposition beibehalten könne. Mit Blick auf das unter UN-Schirmherrschaft konstituierte Verfassungskomitee für Syrien unterstrich die kurdische Politikerin, dass auch mehr als ein Jahr nach dem ersten Treffen in Genf noch immer kein greifbarer Fortschritt für eine Lösung erzielt wurde. „Die Syrienkrise ist kein syrisches Problem, sondern ein internationales. Zu glauben, dass das von den Interessen anderer Staaten überschattete Gremium einen umfangreichen politischen Prozess anstoßen könnte, ist naiv“, sagte Ehmed mit Blick auf die Zusammensetzung des Verfassungskomitees.

Abid Hamed al-Mihbash

Die drei Blöcke bestehen aus dem Regime, der durch die Türkei gestützten „Opposition“ und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Die nordostsyrische Autonomieverwaltung sitzt nicht mit am Verhandlungstisch. Und solange das so ist, sei eine friedliche Lösung des Konflikts und damit ein Ende des Krieges gegen und in Syrien nicht in Sicht. Das stark in die Verhandlungen involvierte Russland wolle durch den Erhalt des Assad-Regimes seinen Einfluss in der Region sichern, der Türkei gehe es in erster Linie um die Zerschlagung der Errungenschaften der Selbstverwaltung und Annexion der besetzten Gebiete.

Gespannt auf Neuausrichtung der US-Syrienpolitik

Beim aktuellen Kapitel der Syrienkrise sei auf die Rolle der USA hinzuweisen, hielt Ehmed weiter fest. Nachdem die US-Führung im Herbst 2019 den Abzug ihrer Truppen aus Nordsyrien bekannt gegeben hatte, startete die Türkei einen weiteren Angriffskrieg, in dessen Folge Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) besetzt wurden. „Die Syrien-Politik Washingtons hat bisher lediglich zu einer Verlängerung beziehungsweise Vertiefung der Krise geführt“, sagte Ehmed. Man sei gespannt auf den Kurswechsel unter Joe Biden.