Polizeiüberfall bei Eren Keskin

Die Istanbuler Polizei hat die Wohnung von Eren Keskin überfallen. Als Grund wurde eine Vorladung in einem neuen Terrorverfahren genannt. Die IHD-Vorsitzende verurteilt den Vorgang und bezeichnet ihn als absurd.

Die Istanbuler Polizei hat die Wohnung der IHD-Vorsitzenden Eren Keskin überfallen. Begründet wurde das Vorgehen mit einer Aufforderung zum persönlichen Erscheinen zwecks einer polizeilichen Vernehmung als Beschuldigte. Der renommierten Menschenrechtsanwältin wird im Zusammenhang mit Äußerungen im Frühjahr 2019 auf einer Podiumsdiskussion in der nordkurdischen Provinz Dersim vorgeworfen, Propaganda für eine Terrororganisation betrieben zu haben.

Keskin verurteilte den Vorgang vom Freitagabend. Es sei „absurd“, zu später Stunde die Wohnung einer Rechtsanwältin aufzusuchen, um eine mündliche Vorladung auszusprechen. Ihr Aufenthaltsort am Tag, nämlich ihre Kanzlei, sei bei den Behörden bestens bekannt. „Man will hier gezielt stören“, kommentierte die 62-Jährige die Polizeiaktion. Die polizeiliche Praxis der gezielten Schikane von Oppositionellen und Kritiker:innen der autoritären Erdogan-Herrschaft gehören in der Türkei zum Alltag.

In ihrer Wohnung angetroffen wurde Keskin zum Zeitpunkt des Überfalls nicht. Daraufhin sei sie telefonisch von den Beamten kontaktiert und über das Ermittlungsverfahren in Kenntnis gesetzt worden. Es handelte sich also nicht um eine versuchte zwangsweise Vorführung im Anschluss an eine zuvor erlassene mündliche Vorladung zur Befragung, der Keskin nicht nachgekommen wäre. Eine solche Maßnahme setzt ohnehin grundsätzlich eine richterliche Anordnung voraus. Eren Keskin will sich in der bevorstehenden Woche bei der Polizei zu dem Sachverhalt äußern, der dem neuen Verfahren gegen sie zugrunde liegt.

Wer ist Eren Keskin?

Eren Keskin hat tscherkessisch-kurdische Wurzeln und arbeitet seit 1984 als Rechtsanwältin. Sie ist nicht nur die derzeitige Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins der Türkei (IHD), sondern auch Gründungsmitglied. Als Strafverteidigerin ist sie vor allem mit politischen Fällen befasst. Keskin ist Gründerin des Rechtshilfebüros gegen sexualisierte Gewalt im Gewahrsam und des Rechtshilfevereins gegen sexualisierte Gewalt. Mit diesen Einrichtungen unterstützt sie seit 1997 von sexualisierter Folter betroffene Frauen, Kinder und Transfrauen mit kostenfreier juristischer Vertretung. Dafür entschied sie sich im Gefängnis, wo sie Mitte der 1990er Jahre wegen einer Meinungsäußerung zur kurdischen Frage einsaß und Zeugin sexueller Gewalt wurde. Seitdem hat sie zahlreiche Prozesse vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegen die Türkei geführt. Auch vor die Vereinten Nationen (UN) brachte sie Fälle von Menschenrechtsverletzungen, zuletzt im Fall der Schriftstellerin Meral Şimşek. 2001 erhielt Eren Keskin für ihr Engagement den Menschenrechtspreis der deutschen Sektion von Amnesty International. Zudem ist sie Trägerin zahlreicher anderer Preise, unter anderem des Aachener Friedenspreises (2004). 

Als unerschrockene Stimme im Einsatz für die Menschenrechte versucht die türkische Justiz Eren Keskin durch willkürliche juristische Schikanen zum Schweigen zu bringen. So laufen gegen sie derzeit mehr als 124 separate Strafverfahren wegen Artikeln, die sie als symbolische Chefredakteurin der inzwischen verbotenen pro-kurdischen Tageszeitung Özgür Gündem veröffentlichte. Die Gesamtstrafe der bisher erstinstanzlich abgeschlossenen Verfahren beläuft sich auf 26 Jahre, neun Monate und zwanzig Tage. Neben den Gefängnisstrafen ist Eren Keskin auch zu Geldstrafen in Höhe von insgesamt 432.912 TL verurteilt worden. 184.000 TL sind bereits bezahlt, weil sie sonst in Haftstrafen umgewandelt worden wären. Vier weitere Verfahren sind mit Freispruch oder Einstellung beendet worden. 

Ihr Engagement brachte Keskin in der Vergangenheit auch vorübergehend ein Berufsverbot und mehrere Morddrohungen ein, unter anderem von der ultranationalistischen „Türkischen Rachebrigade“ (TİT). 1999 war Eren Keskin eine der ersten zwölf Anwält*innen, die den PKK-Gründer Abdullah Öcalan nach seiner völkerrechtswidrigen Verschleppung aus Kenia in die Türkei vertreten haben.