„Keine andere Wahl als Widerstand gegen Heuchelei der deutschen Politik”

Im Interview mit Azadî e.V. hat sich der Frankfurter Rechtsanwalt Stephan Kuhn über das Verfahren gegen Gökmen Çakil geäußert. Der kurdische Aktivist wurde wegen vermeintlicher PKK-Aktivitäten zu über drei Jahren Haft verurteilt.

Der in Köln ansässige Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden in Deutschland Azadî e.V. hat mit dem Frankfurter Rechtsanwalt Stephan Kuhn über das Verfahren gegen Gökmen Çakil gesprochen. Der kurdische Aktivist wurde nach viermonatiger Verhandlungsdauer am 19. Februar vom Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Koblenz zu drei Jahren und fünf Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht sah es nach 15 Verhandlungstagen als erwiesen an, dass Çakil sich für die PKK engagiert und damit nach Paragraph 129b StGB eine terroristische Straftat begangen hat. Zahlreiche Prozessbeobachter*innen reagierten empört auf das „Urteil in Erdoğans Namen“.

In den meisten 129b-Verfahren werden den Angeklagten keine individuellen Straftaten vorgeworfen. Das war auch bei Ihrem Mandanten der Fall. Vermutlich waren Sie von diesem Urteil auch nicht überrascht. Wie also begründete der Senat seine Entscheidung? Ist er sowohl den Anklagepunkten der Bundesanwaltschaft (BAW) gefolgt als auch dem von ihr geforderten Strafrahmen?

Erwartungsgemäß ist der Senat den Forderungen aus dem Plädoyer der Bundesanwaltschaft weitestgehend gefolgt. Diese hatte eine Freiheitsstrafe für Herrn Çakil von drei Jahren und acht Monaten gefordert. Die BAW ist dabei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme jedoch selbst von der ursprünglichen Annahme ihrer Anklageschrift, Herr Çakil sei auch Leiter der Region Saarland/Rheinland-Pfalz gewesen, abgerückt. Sie hat „nur“ noch beantragt, ihn als Gebietsverantwortlichen von Saarbrücken (2017/2018) und Frankfurt/M. (2018/2019) und Leiter der Region Hessen zu verurteilen. Dem hat sich der Senat angeschlossen.

Das Urteil stützt sich im Wesentlichen auf die Ergebnisse umfangreicher Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen (TKÜ) und die üblichen, seit langem bekannten Beweismittel, mit denen begründet werden soll, dass es sich bei der PKK um eine terroristische Vereinigung handelt. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Schriftstücke und Verlautbarungen, die von der Organisation selbst stammen bzw. ihr zugerechnet werden und um Urteile, die sich mit ihr befassen.

Sie haben in dem Verfahren sicher eine Reihe von Anträgen gestellt, in denen die politischen Hintergründe des seit Jahrzehnten bestehenden türkisch-kurdischen Konflikts zum Ausdruck kommen, der bis heute ungelöst ist. Inzwischen räumen Gerichte zumindest ein, dass es eine Verfolgungssituation für Kurd*innen in der Türkei gibt, was auch der Aufklärungsarbeit der Verteidigerinnen und Verteidiger zu verdanken ist. Doch was nutzt diese Einsicht den Angeklagten?

Diese Frage ist mehr als berechtigt und beschäftigt mich selbst auch. Als Verteidiger ist man von so einem Urteil und den zugrundeliegenden Widersprüchen ja immer wieder emotional berührt. Ich nehme dem Senat seine Äußerungen gegenüber Herrn Çakil, dass er ihm auch Respekt für sein Engagement für die kurdische Sache entgegenbringt, ab. Auch glaube ich den Richtern, dass sie anerkennen, dass sich Herr Çakil vor dem Hintergrund der seit Jahrzehnten andauernden repressiven  bzw. aggressiven Politik der türkischen Regierung gegen die kurdische Bevölkerung mit vielen Todesopfern und Verletzten, mitgliedschaftlich betätigt habe.

Selbst die BAW hat die Überzeugung geäußert, dass sein politisches Engagement nach seinem Werdegang und der Entwicklung seiner kurdischen Identität von der Empörung über Repressionen gegen das kurdische Volk und von der Überzeugung geprägt war, dessen Lebensbedingungen zu verbessern. Das sind große und wahre Worte, für die viele Menschen lange Jahre auf der Straße, in Zeitungen, auf Veranstaltungen und in Gerichtssälen gestritten haben, und die ich keineswegs für bedeutungslos halte. Sie vertragen sich nur nicht mit dem realen Handeln deutscher Verwaltungs- und Strafverfolgungsbehörden, deutscher Staatsschutzgerichte und der deutschen Außen- und Innenpolitik, die im Ergebnis fest an der türkischen Seite stehen. Es wäre an der Zeit, dass die verantwortlichen Stellen – vor allem die Bundesregierung – ihre Praxis überdenken und die herrschende Strafverfolgung gegen die kurdische Freiheitsbewegung beenden. Über diese grundsätzlichen Erwägungen hinaus ist hier natürlich auch das Strafmaß für Herrn Çakil, einem sehr freundlichen und friedfertigen Menschen, zu hoch.

Die offizielle Sichtweise ist, dass die kurdische Befreiungsbewegung nicht das Recht habe, sich bewaffnet gegen Verleugnung, Verfolgung und Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung zur Wehr zu setzen. Der Kassationshof in Belgien hat das in einer Revisionsentscheidung im Januar 2020 vollkommen anders bewertet. Was ist Ihre Auffassung zu diesem Urteil?

Ich begrüße dieses Urteil sehr! Es erkennt im Gegensatz zur deutschen Staatsschutzpraxis den Unterschied zwischen Bürgerkrieg und Terrorismus an und zieht daraus den meines Erachtens zutreffenden Schluss, dass es nicht Sache der Strafjustiz sei, sich faktisch auf die Seite einer Partei eines bewaffneten Konflikts zu stellen. Vor allem ist dabei interessant, dass die belgischen Gerichte auf eine Formulierung des belgischen Strafgesetzes abstellen, die wortwörtlich aus dem EU-Rahmenbeschluss entnommen ist, der auch der Einführung des § 129b StGB zugrunde liegt. Das heißt, man kann die Vorgaben für das europäische Terrorismusstrafrecht durchaus so verstehen, dass diese sich nicht auf Sachverhalte wie den bewaffneten Konflikt zwischen der PKK und dem türkischen Staat beziehen.

Können Sie die Auffassung von Kritiker*innen an den 129b-Prozessen gegen Kurd*innen teilen, wonach die Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung durch das Bundesjustizministerium einer Vorverurteilung gleichkommt und die Unabhängigkeit von Richter*innen quasi ad absurdum führt?

Ja, ich würde es allerdings anders formulieren: Angesichts der Weite und Unbestimmtheit des Tatbestands und  Anwendungsbereichs des § 129b StGB ist im Ergebnis die Entscheidung der Bundesregierung über die Erteilung der Verfolgungsermächtigung entscheidend dafür, ob eine militante oppositionelle Organisation als terroristisch verfolgt wird oder nicht. Das stellt mehr als nur eine Vorverurteilung dar und ist meines Erachtens rechtsstaatlich nicht hinnehmbar. Die Verhältnisse in der Türkei und die Verfolgung der PKK in Deutschland sind hierfür das beste Beispiel. Die Richter handeln jedoch in dem schmalen Rahmen, der ihnen nach dem Gesetz und der obergerichtlichen Rechtsprechung bleibt, unabhängig. Ich bin auch nicht sicher, ob etwa eine Streichung des Ermächtigungserfordernisses – so sehr sie aus grundsätzlichen rechtsstaatlichen Gründen zu fordern sein mag – automatisch zu mehr Anwendungsgerechtigkeit führen würde. Oder ob dann nicht einfach die traditionell konservative und staatenfreundliche Staatsschutzrechtsprechung für dieselben Ergebnisse sorgen würde. Ich  halte es vielmehr für entscheidend, dass der Anwendungsbereich der deutschen Staatsschutz- und Terrorismusgesetze gesetzlich eingeschränkt wird, etwa auf Sachverhalte in der EU. Zudem sollten nach dem Vorbild des dargestellten belgischen Urteils bewaffnete Konflikte, die dem humanitären Völkerrecht unterliegen, ausgeschieden werden.

Obwohl der Bundesgerichtshof (BGH) bislang Revisionen in 129b-Verfahrfen verworfen hat: Werden Sie dennoch Rechtsmittel gegen das Urteil einlegen?

Ja.

Wie glauben Sie, wäre Ihrer Meinung nach eine fundamentale Wende in der seit Jahrzehnten herrschenden Kriminalisierungspolitik gegen die kurdische Bewegung und ihre Anhänger*innen zu erreichen?

Da ich befürchte, dass die Bundesregierung auch in absehbarer Zukunft meint, sich zur Wahrung ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen geopolitischen Interessen im Zweifel auf die Seite der Türkei stellen und Strafverfolgung in deren Interesse betreiben zu müssen, bleibt keine andere Wahl als hiergegen Widerstand zu leisten. Ich denke schon, dass bis in konservative Teile der deutschen Bevölkerung hinein immer weniger Verständnis für die blinde Treue Deutschlands zu Erdoğans Türkei besteht. Es gilt also, weiter lautstark und deutlich auf die Widersprüchlichkeit und Heuchelei der deutschen Politik hinzuweisen. Zudem muss die Öffentlichkeit weiter über die ausufernde Repression durch §129b StGB und das Vereinsgesetz, auch gegen Buch- und Musikverlage, aufgeklärt werden. Auch, wenn die Zeiten gerade nicht einfach sind, ist Durchhaltevermögen gefragt.


Das Interview mit Stephan Kuhn ist dem neuen Infodienst von Azadî e.V. entnommen.