Ferda Çetin: Guter Kurde, böser Kurde

Ferda Çetin beleuchtet im ANF-Interview die Zusammenhänge zwischen der zunehmenden Kriminalisierung der kurdischen Bewegung in Europa mit den Entwicklungen in Kurdistan.

Parallel zu der ansteigenden Repression des türkischen Staates in Nordkurdistan und den Besatzungsangriffen in den anderen Teilen beziehen auch westliche Länder seit Anfang des Jahres auffällig Position gegen die kurdische Befreiungsbewegung. In der letzten Zeit werden vor allem in Schweden und Frankreich Methoden wie Hausdurchsuchungen, Festnahmen, Verhaftungen und die Streichung des Aufenthaltsrechts gegen kurdische Aktivistinnen und Aktivisten angewendet.

Ende März wurden in mehreren Städten in Frankreich 13 Kurden festgenommen, neun von ihnen wurden verhaftet und sind im Gefängnis. In Schweden wird die vor gut einem Jahr verabschiedete neue Antiterrorgesetzgebung nicht gegen Islamisten eingesetzt, sondern gegen Kurdinnen und Kurden. In Deutschland befinden sich zurzeit acht Kurden nach den Paragrafen 129a/b Strafgesetzbuch in Untersuchungs- oder Strafhaft.

Der Journalist Ferda Çetin bewertet im ANF-Interview die Kriminalisierung der kurdischen Bewegung in Europa mit ihren Hintergründen und Hauptakteuren.

Beginnen wir mit einem Rückblick: Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Umgang des Westens mit der von der PKK angeführten Befreiungsbewegung und der Beziehung zum kurdischen Volk im letzten Jahrhundert?

Die Politik Europas und der USA zur kurdischen Frage beruht im wesentlichen nicht auf einer direkten Beziehung zum kurdischen Volk, sondern auf den Beziehungen zu den Staaten, die Kurdistan kolonialisiert haben. Mit den Abkommen von Sèvres, Sykes-Picot und Jalta haben die Herrschenden 1916, 1921 und 1945 den Mittleren Osten aufgeteilt. Die dabei entstandenen Landkarten zeigen, dass die Kurden subjektiv nicht wahrgenommen werden.

Die „islamische Revolution“ 1979 im Iran, die 2003 von den USA und England angeführte Besatzung des Irak und die Besatzung von Teilen des Irak und Syriens 2014 durch den IS waren Umbrüche im Status des Mittleren Ostens, die die bestehenden Balancen zerstört haben. Durch diese Umbrüche entstanden neue Möglichkeiten für die statuslosen Kurden. Im Irak bekam Südkurdistan einen anerkannten Status, in Syrien entstand mit der Ausrufung der Autonomie von Rojava eine neue Situation in den westlich-kurdischen Beziehungen.

Die USA und die Staaten Europas pflegen zwar innerhalb der internationalen Koalition gegen den IS gute Beziehungen mit den Kurden im Irak und in Syrien, verhalten sich bei der Frage einer Vergrößerung der kurdischen Errungenschaften und eines international anerkannten Status jedoch weiterhin nicht wie Partner, sondern wie Gegner. Das ist vor allem beim Unabhängigkeitsreferendum in Südkurdistan und bei der Autonomieerklärung in Rojava sichtbar gewesen.

In den letzten Jahren wird häufig von der Herangehensweise „Gute Kurden – Böse Kurden“ gesprochen. Wo beginnt Ihrer Meinung nach eine solche Unterscheidung?

Die USA und die europäischen Staat behandeln das kurdische Volk und seine politischen Bewegungen nicht als Gesamtheit, sondern unternehmen ihrem eigenen ideologisch-politischen Verständnis zufolge eine Klassifizierung und Aufteilung. Die USA, England, Deutschland, Frankreich und Schweden kämpfen seit vielen Jahren programmatisch dafür, sich jeweils „eigene Kurden“ zu erschaffen. Die Unterscheidung zwischen guten und bösen Kurden erfolgt entsprechend ihrer eigenen Maßstäbe und Vorlieben.

Die USA haben am 11. September 2020 in Doha Gespräche mit al-Qaida begonnen. Parallel dazu fingen die Gespräche zwischen Regierung und Taliban in Afghanistan an. US-Außenminister Antony Blinken hat vor wenigen Tagen erklärt, dass die Organisation Ansarullah im Jemen von der „Terrorliste“ gestrichen wird.

Auf der anderen Seite wird die PKK als größte und einflussreichste politische Kraft in Kurdistan sowohl in der EU als auch in den USA beharrlich als terroristische Organisation gelistet. Gibt es bei diesem Thema eine internationale Zusammenarbeit?

Das PKK-Verbot wird im weltweiten Maßstab von den USA und in Europa von Deutschland angeführt. Die Abstempelung als terroristisch beschränkt sich jedoch nicht auf diese beiden Staaten, sondern geht aus einer internationalen Koordinierung und Zusammenarbeit hervor. Ein konkreter Beweis dafür war der Schriftverkehr, der dank Wikileaks Gegenstand im PKK-Prozess in Belgien war. Diese Dokumenten legen offen dar, dass die PKK-Verfahren in Deutschland, Frankreich, Dänemark und Belgien auf politischen Druck eingeleitet wurden und die USA darin involviert sind. Während der PKK-Prozess in Brüssel noch andauerte, sind Vertreter der USA, Belgiens und der Türkei häufig zusammengekommen und haben nach Wegen gesucht, das Verfahren zu beeinflussen.

Nancy McEldowney, US-Botschafterin in Ankara, schlägt in einem Schreiben vom 2. Mai 2006 vor, entsprechend der Forderungen der Türkei in Belgien zu intervenieren. In einer Nachricht vom 15. Februar 2007 teilt sie mit, dass Ankara mit den in Frankreich und Belgien erfolgten Festnahmen von PKK-Mitgliedern zufrieden ist. Die US-Botschafterin spricht sich für einen intensiveren nachrichtendienstlichen Austausch zwischen Europa, Türkei und USA und eine Zusammenarbeit gegen Roj TV und Firat News aus. Dass der Prozess gegen Roj TV in Kopenhagen auf Anweisung des US-Außenministeriums an die dänische Regierung erfolgt ist, war lange Thema in den Medien und im Parlament in Dänemark. Für das Verbot von Roj TV wurde der dänische Ministerpräsident Rasmussen mit dem Posten des NATO-Generalsekretärs belohnt.

Deutschland folgt den Wünschen des türkischen Staates

Bestimmen die USA die Beziehungen zwischen Europa und der kurdischen Befreiungsbewegung? Welche Rolle spielt der deutsche Staat in dieser Gleichung?

Die Beziehungen Europas zu den Kurden und der kurdischen Befreiungsbewegung können zweifellos nicht unabhängig von den USA betrachtet werden. Deutschland hat die Gegnerschaft zur PKK zur Verhandlungsmasse in den politischen und Handelsbeziehungen zur Türkei gemacht und verfolgt eine Politik, die vollkommen den Wünschen und Forderungen des türkischen Staates entspricht. Dr. Peer Stolle, Bundesvorsitzender der RAV, bezeichnet das PKK-Verbot in Deutschland als politisch motiviert. Rechtsanwalt Lukas Theune weist darauf hin, dass die PKK kriminalisiert wird, weil sie ein alternatives Gesellschaftsmodell vorlebt und deshalb als gefährlich gilt. Wer die PKK als Bedrohung des eigenen Systems betrachtet, setzt sie auf Terrorlisten und verbietet sie. Das Verbot ergibt sich also nicht aus der Gewaltanwendung der PKK in diesen Ländern, sondern aus ihrer antikapitalistischen Linie. Dabei gibt es in Deutschland, England, Frankreich, den USA und Schweden noch viel radikalere antikapitalistische Parteien und Organisationen, die diese Staaten offen bedrohen. Sie stehen jedoch nicht auf Terrorlisten.

Warum wird derartig auf der Einstufung der PKK als terroristischer Vereinigung beharrt? Was unterscheidet die PKK von den Organisationen und Bewegungen, die sie angesprochen haben?

Die PKK setzt ihre Theorie in die Praxis um. Sie verfügt über die Kraft und Fähigkeit, ihre Ideen in der Gesellschaft zu verankern und ein alternatives System zu bilden. Das beunruhigt die Vertreter des Kapitalismus. Die PKK ist nicht nur eine Bewegung, die für die Freiheit der Kurden kämpft. Sie versetzt dem alleinigen Willen des Imperators und der Geschichte vom Ende der Welt tödliche Schläge. Sie zeigt den unter dem Druck des Systems lebenden Menschen, den Frauen, den Armen und den Marginalisierten der Welt auf, dass ein anderes Leben und ein anderes System möglich sind.

Die Besitzer des Kapitalismus halten das bestehende Weltsystem für die letzte Etappe von Hegels perfektem Staat. Sie glauben, dass es nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus keine andere Alternative mehr gibt. Mit dem alternativen Lebensmodell der PKK wird der Kapitalismus systematisch angeprangert. Und das ist der Grund für die staatenübergreifende Feindseligkeit der PKK gegenüber.

Repression als Teil des Masterplans

In letzter Zeit kommt es in Schweden zu seltsamen Entwicklungen. Die schwedische Regierung hätte sich bei den Kurden für die jahrelangen Anschuldigung im Palme-Mord entschuldigen müssen. Warum setzt sie ihre neuen Gesetze gegen kurdische Aktivistinnen und Aktivisten ein?

Am 26. Oktober 2020 hat die schwedische Abgeordnete Amineh Kakabaveh mit Außenministerin Ann Lind diskutiert und gesagt, dass die Türkei unter dem Vorwand des Antiterrorkampfes weiter Rojava besetzen und Südkurdistan bombardieren wird, wenn die PKK nicht von der Terrorliste gestrichen wird. Ann Lind teilte dazu mit, dass die EU und Schweden die PKK seit 2002 auf der Liste führen und eine Streichung nicht zur Debatte steht.

Der schwedische Staat hat ein außergewöhnliches Engagement gezeigt, um den Mord an Olaf Palme am 28. Februar 1986 dem kurdischen Volk und der PKK anzulasten, dabei war er äußerst „erfolgreich“. Dass sich Jahre später herausgestellt hat, dass die PKK mit dem Attentat nichts zu tun hatte, wird als nebensächlich abgetan. Damit will sich Schweden von seinen Sünden reinwaschen. Der Palme-Mord war jedoch der Beginn der Verbote in Deutschland und ist in Europa für alle weiteren Anschuldigungen herangezogen worden. Diese Rolle und Mission haben die damalige Regierung und der Geheimdienst Schwedens für Europa übernommen.

Parallel zu der Politik in Deutschland ist die in letzter Zeit verschärfte Kriminalisierung von Kurden einschließlich Festnahmen, Verhaftungen, Prozessen und dem Einfrieren von Bankkonten Teil des praktizierten Masterplans. Deutschland beharrt auf einer starren und feindlichen Haltung der PKK und den im Land lebenden Kurden gegenüber. Ohne konkrete Anschuldigungen werden Menschen nach Paragraf 129b angeklagt und verurteilt. Diese Verdrehung des Rechts und der Gesetzgebung entspricht der Willkür des Mittelalters. Die USA, Frankreich und Schweden vertreten einvernehmlich und koordiniert die Politik „Guter Kurde, böser Kurde“.

Der Zweck des Plans ist die Zerschlagung der PKK

Liegt es an dieser Politik, dass Rojava, Şengal und sogar Mexmûr für Angriffe des türkischen Staates freigegeben worden sind?

Durch den Kampf des kurdischen Volkes und der PKK-Guerilla gegen den IS 2014 in Rojava, Kobanê, Şengal und Mexmûr sind Sympathie und Interesse an den Kurden und der PKK entstanden. Die Sympathie galt nicht nur dem Mut und Erfolg im Krieg. Die Weltöffentlichkeit hat über die PKK-Guerilla und die kurdischen Frauen Abdullah Öcalan und das von ihm für die Kurden und den Mittleren Osten vorgeschlagene System kennengelernt und zu verstehen begonnen. Der alleinige Grund dafür, dass Rojava, Şengal und Mexmûr für die türkischen Angriffe freigegeben wurde, liegt an dem dort aufgebauten System. Es sind sichtbare und lebende Beispiele für eine Alternative zum Kapitalismus, die eine andere Welt und ein anderes Leben möglich macht.

Seit der Niederlage des IS im Irak und in Syrien verfolgen die UN, die USA, England, Deutschland, Frankreich und Schweden einen neuen Plan. Auf der einen Seite finden Gespräche mit den Kurden statt und innerhalb des diplomatischen Verkehrs werden humanitäre Hilfe und wirtschaftliche Unterstützung angeboten. Auf der anderen Seite wird an der Zerschlagung des seit vierzig Jahren andauernden Freiheitskampfes in Kurdistan und der Ausschaltung seiner Führung gearbeitet. Dieser Plan zielt auf die Vernichtung der PKK ab. Die Türkei und die PDK sind darin eingebunden und haben bestimmte Rollen übernommen. Weil der Vernichtungsplan innerhalb der Bevölkerung von Bakur, Başûr, Rojhilat und Rojava keine Akzeptanz finden, werden Konflikte zwischen politischen Parteien geschürt, um die Einheit des Volkes zu zerstören.

Der ehemalige US-Sicherheitsberater John Bolton beschreibt in seinem Buch „Der Raum, in dem alles geschah“ die Tätigkeiten der USA und Russlands, mit denen die Revolution von Rojava ihrer Essenz beraubt und deformiert werden soll. Boltan erzählt, wie Rojava mit Hilfe der Türkei unter Druck gesetzt und zu Zugeständnissen gezwungen werden soll, während parallel dazu die Zerschlagung der kurdischen Befreiungsbewegung in Bakur und Başûr vorangetrieben wird. Die USA, die EU, Russland, Syrien und die Türkei verfolgen trotz der Widersprüche und Unstimmigkeiten untereinander von Beginn an eine strategische Partnerschaft. Die USA, Russland und die EU haben der Besatzung von Rojava durch die Türkei zustimmt und dabei Unterstützung geleistet. Damit haben sie die Entstehung einer kurdischen Autonomieregion in Rojava durch eine Vereinigung der 2014 von den Kurden ausgerufenen Kantone Cizîrê, Kobanê und Efrîn verhindert.

Gibt es eine Verbindung zwischen der Kriminalisierungspolitik in Europa und den letzten Angriffen des türkischen Staates?

Dass die UN, die irakische Regierung und die PDK tatenlos zusehen, wie die Kräfte der Türkei und des IS Südkurdistan besetzen, verweist auf die Zustimmung und Partnerschaft der internationalen Koalition. Diese Rücksichtslosigkeit und Dreistigkeit lässt sich nicht mit der militärischen oder politischen Stärke der Türkei erklären. Insofern besteht eine sehr direkte und starke Verbindung zwischen der Isolation Abdullah Öcalans, dem Schweigen des Europarats und des Antifolterkomitees CPT, der Besatzung von Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî, dem von der Türkei, der PDK und dem Irak beschlossenen Abkommen gegen Şengal, den Verhaftungen, dem drohenden Verbot der HDP und der Usurpation der Rathäuser in der Türkei und der Repression in Deutschland, Frankreich und Schweden.