Bahoz Erdal: Das Schicksal Rojavas wird vom Kampf bestimmt

„Wenn wir in Würde und Ruhe leben wollen, müssen wir für den Widerstand und den Kampf bereit sein. In der Region herrscht eine Kriegssituation und dieser Krieg drängt sich allen auf“, erklärt der Guerillakommandant Bahoz Erdal im TV-Interview.

Der Guerillakommandant Doktor Bahoz Erdal aus dem Hauptquartier der Volksverteidigung hat sich in einer Sondersendung bei Stêrk TV zu aktuellen Themen geäußert. Wir veröffentlichen Ausschnitte aus seinen Bewertungen in mehreren Teilen. Im ersten Teil geht Bahoz Erdal auf das Massaker in Tel Rifat, den Angriff auf Rojava und das Verhältnis zur syrischen Regierung ein.

Massaker in Tel Rifat: Weder Unfall noch Zufall

Die türkische Armee hat in Tel Rifat [kurdisch: Arfêd] ein Massaker an unserem Volk und Kindern aus Efrîn verübt. Dabei sind zehn Menschen ums Leben gekommen und acht von ihnen waren Kinder. Es sind Granaten in der Stadt eingeschlagen und insbesondere wurde eine Schule bombardiert. Dass dieses Massaker in Tel Rifat zu dieser Zeit verübt wurde, ist weder ein Zufall noch ein Unfall. Der türkische Staat verfügt über Karten von Tel Rifat und weiß, wo in der Stadt Schulen sind.

Darüber hinaus finden ständig Aufklärungsflüge statt und der Ort wird beobachtet. Aus diesem Grund ist bekannt, was wo ist. Es ist sichtbar, ob es sich um eine Schule oder eine Wohngegend handelt. Daher kann dieses Massaker nicht als ein Unfall bewertet werden. Der Angriff wurde bewusst und absichtlich ausgeführt, um Kinder aus Efrîn zu töten.

Kein Unterschied zu Roboski und Kendakola

Es gibt keinen Unterschied zu dem Massaker von Roboski und dem von Kendakola. In Kendakola wurden Dutzende Menschen aus Südkurdistan bei einem Luftangriff getötet, darunter viele Kinder und Frauen. In Roboski kamen 34 junge Kurden ums Leben. In Tel Rifat hat jetzt das gleiche stattgefunden. Alle drei Angriffe haben sich gegen kurdische Kinder gerichtet. Jeder Angriff hat in einem anderen Teil Kurdistans stattgefunden. Aber der Angreifer war immer derselbe: Der türkische Staat.

Die Realität des türkischen Staates, die Sichtweise und der Umgang der AKP/MHP-Regierung mit dem kurdischen Volk sind angesichts dieser Massaker offensichtlich. Mit dem bewusst durchgeführten Massaker in Tel Rifat soll unserem Volk eine Botschaft vermittelt werden. Das Volk soll eingeschüchtert und in die Flucht getrieben werden. Sein Wille soll geschwächt werden. Der türkische Staat würde sich von sich aus nicht darauf beschränken, nur acht Kinder zu ermorden. Aufgrund der erfolgten Reaktionen kann er jedoch vor den Augen der Weltöffentlichkeit keinen Völkermord verüben, wie er an den Armeniern stattgefunden hat. Dabei war das, was er in Rojava vorhatte, ein Massenmord. Es soll nichts mehr übrig bleiben, was an Rojava erinnert. Es geht dem türkischen Staat nicht nur um einen arabischen Gürtel, er will einen Gürtel der Muslimbruderschaft, einen IS-Gürtel errichten. Alles Kurdische soll ausgelöscht werden.

Grausamkeit als Eingeständnis der Hilflosigkeit

Wir gedenken allen bei Massakern getöteten kurdischen Kindern und allen Toten in Tel Rifat voller Achtung. Der Kampf der Freiheitsguerilla Kurdistans beruht vom ersten Tag an bis heute darauf, Rechenschaft für die begangenen Massaker zu verlangen. Auch für das in Tel Rifat stattgefundene Massaker werden wir Rechenschaft fordern, indem wir unser Kampf verstärken.

Der faschistische türkische Staat kann vielleicht unschuldige Menschen töten, aber den Kampf des kurdischen Volkes für Freiheit und Unabhängigkeit kann er nicht aufhalten. Der Kampf für Freiheit wird noch größer werden. Wann immer der türkische Staat angesichts des Kampfes unseres Volkes in Bedrängnis gerät, greift er zu grausamen und unmenschlichen Methoden. Dieses Massaker ist in gewisser Weise ein Eingeständnis der Hilflosigkeit. Es ist ein Zeichen dafür, dass der türkische Staat angesichts des Widerstands unseres Volkes nicht weiter weiß.

Das Schicksal von Rojava wird vom Kampf unseres Volkes bestimmt

In letzter Zeit findet ein Besatzungsangriff auf Rojava-Kurdistan statt. Die Bevölkerung leistet seit zwei Monaten Widerstand. Der türkische Staat und die von ihm gesteuerten Banden sind in Serêkaniyê [Ras al-Ain] und Girê Spî [Tall Abyad] eingedrungen. Dabei handelt es sich jedoch um eine Phase. Der Angriff kann nicht unabhängig vom Gesamtprozess betrachtet werden. Im gesamten Mittleren Osten findet eine Kriegsphase statt. Die Völker der Region kämpfen für eine ruhige, würdevolle und freie Zukunft.

Auf der anderen Seite stellen die Kolonialstaaten und die internationalen Kräfte eigene Berechnungen für die Region auf. In diesem Rahmen findet ein Kriegsprozess statt. Der Angriff auf Rojava ist ein Teil dieses Krieges. Der türkische Staat und die von ihm gesteuerten Banden sind in diese Gebiete eingedrungen, aber wie lange sie dort bleiben können und was die kurz- und langfristigen Konsequenzen sind, wird vom Kampf unseres Volkes bestimmt.

Besatzungsangriff zeigt die Notwendigkeit von Selbstverteidigung

In der momentanen Situation hält der türkische Staat sich für äußerst erfolgreich, aber das ist er nicht. Dass er in Serêkaniyê und Girê Spî eingedrungen ist, lässt nicht auf einen Erfolg schließen. Es handelt sich um eine Besatzung. Die Rechnung für diesen Angriff trifft die Besatzer schwer. Der Widerstand unseres Volkes und die erwiesene Opferbereitschaft haben weltweit eine große Wirkung erzielt. Das kurdische Volk und Rojava sind auf der ganzen Welt auf die Agenda gekommen. Die Existenz des kurdischen Volkes und sein Befreiungskampf sind zu einer internationalen Frage geworden. Die Legitimität des Kampfes in Rojava ist weltweit unbestritten. Gleichzeitig hat sich gezeigt, dass die Völker Nord- und Ostsyriens Selbstverteidigungskräfte brauchen und Widerstand leisten müssen.

Lösung und Frieden kurzfristig unmöglich

Die Bevölkerung in Rojava – Kurden, Araber, Assyrer, Suryoye – hat begriffen, dass der Krieg in der Region nicht von kurzer Dauer ist und auch nicht nur mit der Situation in Syrien zusammenhängt. Es besteht ein Zusammenhang mit dem Irak und anderen Orten, mit der gesamten Region. Der Krieg wird weiter andauern und ein kurzfristiger Frieden, eine baldige Lösung und Beilegung der Konflikte sind nicht möglich. Selbst wenn es dazu kommen sollte, wäre es nicht von langer Dauer.

Die Menschen in Nord- und Ostsyrien haben große Opferbereitschaft gezeigt. Ihre Häuser, Dörfer und Städte sind sowohl von al-Nusra als auch vom IS mehrfach zerstört und verbrannt worden. Und jetzt macht der kolonialistische türkische Staat dasselbe. Aber die Bevölkerung hat die notwendige Erfahrung gesammelt. Daher müssen alle auf Widerstand und Krieg vorbereitet sein. Wenn wir in Würde und Ruhe leben wollen, müssen wir für den Widerstand und den Kampf bereit sein. In der Region herrscht eine Kriegssituation und dieser Krieg drängt sich allen auf.

Wenn wir zu Widerstand und Kampf nicht bereit sind, können wir kein würdevolles und ruhiges Leben erlangen. Leider kommt es in dieser Widerstands- und Kriegsphase zu Zerstörung und Tod. Der Feind, der uns gegenübersteht, heißt zwar Türkei, aber eigentlich handelt es sich um den IS. Er hat die Denkweise des IS und wendet IS-Methoden an. Wir sind davon überzeugt, dass unser Volk in Rojava und die gesamte Bevölkerung Syriens künftig noch stärker Widerstand gegen diese unmenschliche und grausame Mentalität leisten werden. Der türkische Staat wird einen hohen Preis für seine auf Feindschaft aufbauende Völkermordpolitik zahlen.

Damaskus als Ort der Lösung

Die kurdische Frage in Syrien und in Rojava muss in Damaskus gelöst werden. Die kurdische Frage und das Demokratie-Problem in Syrien bestehen auf syrischem Territorium und können nur mit der Regierung in Damaskus gelöst werden. Der Ort für eine Lösung ist Damaskus. Das gilt sowohl für unser Volk in Rojava als auch für alle weiteren Völker in Syrien. Der Weg zu einer Lösung führt für die Regierung Syriens über einen direkten Dialog mit dem kurdischen Volk. Die syrische Regierung muss ihre Kurden-Phobie überwinden. Die Propaganda, dass die Kurden separatistisch sind, Syrien spalten wollen oder von ausländischen Kräften abhängig sind, ist falsch und realitätsfern.

Sowohl vor der Revolution als auch während des revolutionären Prozesses ist praktisch und konkret bewiesen worden, dass die Kurden aus Rojava keine Ambitionen haben, Syrien zu spalten. Wie können sie Separatisten sein, wenn die Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien eine Allianz mit der arabischen Bevölkerung und allen in der Region bis Raqqa und Deir ez-Zor lebenden Völkern bildet? Es geht sogar über eine Allianz hinaus, es geht um die Schaffung eines gemeinsamen Lebens und dafür werden große Anstrengungen vollbracht.

Wenn die Kurden in Rojava separatistisch und spalterisch wären, hätten sie keine derartige Gemeinsamkeit und Partnerschaft mit der arabischen Bevölkerung aufgebaut. Sie hätten sich mit Raqqa und Deir ez-Zor gar nicht erst befasst. Sie hätten nicht versucht, ganz Syrien zu schützen, sondern nur die Orte, an denen sie selbst sind. Da diese Fakten so offensichtlich sind, muss das Regime Syriens endlich seine Kurden-Phobie beiseite legen.

Erdoğans Konzept

Das syrische Regime darf das kurdische Volk in Rojava und seine Autonomieverwaltung nicht als Feind betrachten und behandeln und es sollte nicht davon ausgehen, dass sie von internationalen Kräften abhängig sind. Das ist zum einen nicht wahr und völlig realitätsfern, zum anderen löst diese Sichtweise nicht das Problem und ist in der Konsequenz für das Regime nicht gut.

Solange das Regime in dieser Form mit den Kurden umgeht, dient es der Agenda Erdoğans. Erdoğan will das syrische Regime gegen die Kurden aufhetzen. Er will die Widersprüche zwischen der syrischen Regierung und den Kurden vertiefen. Er stellt die Kurden als separatistisch dar und will damit das syrische Regime dazu bringen, die Kurden zu fürchten. Das ist Erdoğans Konzept. Wenn also Baschar al-Assad den Kurden auf dieser Grundlage begegnet und in diesem Kontext redet, dient er der Agenda Erdoğans.

Ohne Rojava gäbe es das syrische Regime nicht mehr

Woraus besteht Erdoğans Agenda? Er will Syrien besetzen. Aus diesem Grund sagen wir, dass vor allem die Beziehungen zwischen den Kurden und der Zentralregierung in Damaskus geordnet werden müssen. Diese Neufindung muss auf radikale Weise und ohne Täuschungen stattfinden. Es ist eine tiefgreifende Auseinandersetzung erforderlich. Ansonsten kann es in Syrien keine Stabilität geben und auch das Regime wird sich nicht halten können.

Das syrische Regime sollte nicht vergessen, dass es gar nicht mehr da wäre, wenn die YPG nicht gegründet worden wären und es die Politik der Bevölkerung Rojavas und der Autonomieverwaltung nicht gegeben hätte. Der türkische Staat und die mit ihm verbündeten separatistischen Banden beschuldigen sogar die Kurden und sagen: „Wenn es euch nicht geben würde, hätten wir das Regime gestürzt.“ Hätte das Regime in Aleppo bleiben können, wenn die Kurden in Efrîn und Aleppo den Banden und dem türkischen Staat geholfen hätten? Hätte sich das syrische Regime halten können, wenn Aleppo verloren gegangen wäre? Und ist die Situation in Cizîrê nicht dieselbe?

Syrische Regierung sollte Kurden und YPG danken

Die Haltung der Kurden ist ausschlaggebend dafür, dass Syrien bis heute nicht in die Hände des türkischen Staates und seiner Banden gefallen ist. Die Regierung in Damaskus sollte den YPG und dem kurdischen Volk dafür danken. Wenn es sie nicht gegeben hätte, wäre nichts mehr von der territorialen Gesamtheit Syriens übrig. Der türkische Staat hätte alle Orte besetzt und an die Türkei angegliedert. Wie hat er denn Iskenderun eingeheimst? Das Gebiet um die Stadt Iskenderun, die heutige türkische Provinz Hatay, hat bis 1938 zum französischen Mandatsgebiet Syrien gehört. Was der türkische Staat mit Iskenderun gemacht hat, macht er jetzt in Dscharablus und Efrîn.

Die Regierung in Damaskus sollte die kurdische Haltung der letzten sieben Jahre richtig lesen und auf dieser Grundlage eine neue und tragfähige Beziehung zu den Kurden aufbauen. Wenn diese Beziehung auf der Anerkennung der Kurden und ihrer Rechte basiert, wird damit die Zukunft Syriens und sogar des Regimes garantiert. Wenn die Feindschaft gegenüber den Kurden jedoch fortgesetzt wird, wenn die Kurden in Rojava tatsächlich ausgelöscht werden sollten, wird danach Damaskus an der Reihe sein. Aus diesem Grund sollte die Regierung in Damaskus an die Zukunft denken. Sie sollte die Angelegenheit nicht durch die Brille des arabischen Chauvinismus betrachten und ihre Kurden-Phobie ablegen. In diesem Fall würde sich eine neue Seite für die Zukunft Syriens auftun.