„Ökonomische Krise kann mit Öcalans Projekt überwunden werden“

Im ANF-Gespräch bewertete der HDP-Abgeordnete Kemal Bülbül die politische und ökonomische Krise in der Türkei: „Öcalans Friedensprojekt ist ein Lösungsvorschlag, der das Land vor der Krise retten kann.“

Der HDP-Abgeordnete für die Region Antalya, Kemal Bülbül, hat im Gespräch mit ANF die politische und ökonomische Krise in der Türkei bewertet. Bülbül sagt, das Handeln der Regierung habe die wirtschaftliche Krise in einen sich beschleunigenden strukturellen Zusammenbruch transformiert. Ein entscheidendes Problem sei außerdem die nicht auf Produktion ausgerichtete Ökonomie der Türkei.

„In der Türkei ist der Tourismus-, Bau- und Handelssektor beispielsweise im ökonomischen Bereich aktiv. Obwohl es in Hinsicht auf den internationalen Handel einen Export von landwirtschaftlichen Produkten gibt, ist die Situation, in welche die landwirtschaftliche Produktion geraten ist, prekär. Andererseits stehen wir einer Bourgeoisie gegenüber, die unter dem Schutz und der Anleitung des Staates durch Tourismus, Bau und Handel reich gemacht wurde“, so Bülbül.

Aufgrund dessen sei der ökonomische Zusammenbruch unausweichlich: „Andererseits wissen wir, dass auch die als Großbourgeoisie bezeichnete, an die TÜSIAD [Vereinigung türkischer Industrieller und Geschäftsleute] gebundene Schicht nicht über die Herstellung von Ersatzteilen und ein paar Patenten für die Karosserieproduktion hinausgehende Produktion verfügt und diese Produktion nicht die Qualität besitzt, auf internationaler Ebene die Handelsbilanzen und Märkte zu beeinflussen. Das System hält seine Arbeiter*innen und Beamt*innen in einem Limbus zwischen Hunger und Völle gefangen und verfügt über eine Struktur, die am einfachsten mit den Worten beschrieben werden kann, dass diese auf der Basis der Bedienung der Bedürfnisse seiner Bourgeoisie arbeitet.“

„Das einzige Lösungsprojekt ist das von Herrn Öcalan“

Bülbül sagt, für das 21. Jahrhundert sei eine auf den demokratischen Menschenrechten begründete Ökonomie notwendig, die einen Schwerpunkt auf gerechte Verteilung und Wohlfahrt legt. Das Bestehen auf dem aktuellen Modell habe die Grundlage für die Krise gelegt. „In diesem Sinne war das 2013 von dem kurdischen Vordenker Abdullah Öcalan vorgelegte Friedensprojekt, das die Grundlage für die zwei Jahre andauernden Verhandlungen legte, ein Lösungsvorschlag, der die Türkei vor ihrer strukturellen Krise hätte retten können. Allerdings bedeutet eine Rettung vor der strukturellen Krise nichts weniger als die Quellen, aus denen sich die Lenker der aktuellen Politik versorgen, auszutrocknen.

Das hat einem Modell den Weg bereitet, in dem Rassismus angestachelt und eine Kultur des Kampfes bzw. eine Kulturlosigkeit gefördert wird“, sagt Bülbül. Es handele sich um eine rassistische und faschistische Haltung, in der alles daran gesetzt werde, ein Ende des vom rassistischen Geiste des tiefen Staates durchdrungenen monistischen Staatsmodells zu verhindern. „Normalerweise ist ein ständiger Wandel des Staates, der Gesellschaften, der Familien wie auch der Individuen notwendig. Wenn diese Veränderungen nicht stattfinden, kann weder das aktuell notwendige getan werden, ja nicht einmal die Bourgeoisien können sich dann noch ihre eigenen Bedürfnisse zu erfüllen.“

„Die Türkei soll eine Kontrollfunktion im Mittleren Osten einnehmen“

Weiter weist Bülbül darauf hin, dass mit der zunehmenden Globalisierung eine weltweite Systemveränderung begonnen habe: „Aber inwiefern zeigten diese Veränderungen Wirksamkeit? Auch wenn das, was in Nordafrika geschah, als arabischer Frühling bezeichnet wird, so handelte es sich doch eher um Anpassungen des Modells, um die kolonialen Bedürfnisse des europäischen Imperialismus oder des US-Imperialismus zu befriedigen und nicht um Änderungen, die einen demokratischen Wandel brachten. Die damaligen diktatorischen Strukturen wurden entfernt und an ihre Stelle angeblich demokratisierte, aber real wenig von den alten Strukturen unterschiedliche Machtverhältnisse geschaffen. So wollte man auch in Syrien und dem Irak vorgehen.“

Dass die Türkei demgegenüber eine noch totalitärere, fundamentalistischere und autoritärere Struktur anzunehmen versucht, begründet Bülbül mit den Worten: „Das liegt zum einen daran, dass man die Türkei eigentlich als ein Kontrollinstrument für den Mittleren Osten nutzen möchte und zum anderen an der kurdischen und der alevitischen Frage. Auch die Probleme der Arbeiter*innen und die Frauenfrage benötigen äußerst dringend einer Lösung. Wie ich zuvor ausgeführt habe, kann die aktuelle Struktur des Staates bei einer Lösung dieser Probleme nicht weiterbestehen. Die räuberische Klassenstruktur, die diesen Staat zu führen versucht, müsste hierfür verschwinden. In der aktuellen Lage werden zwar viele Möglichkeiten diskutiert, aber das Lösungsmodell, das Abdullah Öcalan 2013 hervorgebrachte, hat immer noch nichts an seiner Aktualität eingebüßt. Es ist immer noch ein Modell, das angewandt werden sollte.“

„Notwendig ist ein Modell, das für die Rechte von allen eintritt“

Auch die HDP habe Lösungsmodelle und Projekte entwickelt, die zum Aufbau eigener Strukturen der basisdemokratischen Kräfte notwendig sind. Diese Methoden basieren auf Pluralismus und Teilnahme. Es gehe darum ein Modell aufzubauen, in dem das Recht eines jeden selbst eingefordert wird und das eine Einheit der Vielfalt vertritt. „Diese Struktur muss sich zu einer politischen Kraft wandeln und ihren Kampf ausweiten. Von der Umweltpolitik über die Arbeiter*innen im Tourismus, die Arbeiter*innen in der Landwirtschaft, die Saisonarbeiter*innen, die Angestellten und Beamten bis hin zur Gentrifizierung und Urbanisierung; das System steht insgesamt einem Zusammenbruch, einer Erosion und einer Verschmutzung gegenüber.“

Diese Verschmutzung könne nur durch einen Wandel des Wirtschaftsmodells überwunden werden. Bülbül fährt fort: „Wir haben die Verantwortung all dies synchron zu tun. Es muss ein System des Kampfes aufgebaut werden, das so weit wie möglich vergesellschaftet wird und alle Komponenten der Gesellschaft, - vom kurdischen Volk bis zum türkischen Volk, aber auch die armenische Gesellschaft, derer gedacht wird, die aber kaum noch existiert, die assyrische Bevölkerung, die tscherkessische Bevölkerung und die unterschiedlichen Kreise, die Arbeiter*innen und Angestellten aus den Städten und Dörfern, aber auch die Mittelklasse - mit einbezieht. Die aktuelle Situation kann nicht nur mit einem Gesetzentwurf im Parlament überwunden werden, wir stehen vielen sehr größeren Probleme gegenüber. Das System ist am Ende, es ist verfault und es bricht auseinander. Um diese Fäulnis fortzusetzen, wenden die Herrschenden Gewalt, Rassismus und Faschismus an.“

„Wir müssen das Lösungsmodell aufbauen“

Gegen die Repression sei die Vergesellschaftung des legitimen demokratischen Kampfes notwendig, sagt Bülbül und führt aus: „Die Zahl derer, die seit der als letzter Putsch bezeichneten Abrechnung zwischen Strukturen innerhalb des Staates im Rahmen von Ausnahmezustandsdekreten entlassenen Arbeiter*innen, Wissenschaftler*innen und Akademiker*innen ist bei weitem noch nicht umrissen. Das hat zu einer Situation geführt, in der Menschen nicht nur zu Hunger und Armut, sondern auch zum Hungertod verurteilt sind.“

Es sei eine Situation notwendig, in der alle Komponenten der Gesellschaft erfasst werden und eine Verbindung aufbauen, durch die in ein Modell des Kampfes übergegangen wird, in dem Rechte errungen werden, fordert Bülbül. „Es ist keine hochtheoretische oder wissenschaftliche Erkenntnis notwendig um zu begreifen, dass das aktuelle System, das antidemokratisch ist und sich auf Rassismus und Faschismus stützt, ökonomisch zusammenbricht. Diese Realität liegt vor aller Augen. Es geht eigentlich darum, hierfür das Lösungsmodell, die Lösungsmethode, die Lösungswerkzeuge und die Kampfmethoden zu ermitteln. Das ist notwendig und diese Bemühungen müssen konkretisiert und praktisch umgesetzt werden.“