Neue Universität für Raqqa: Zanîngeha Şerq

Die Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien setzt ihre Aktivitäten für den Ausbau des akademischen Bereichs fort. In Raqqa ist eine neue Universität gegründet worden: Die Zanîngeha Şerq.

Trotz des Kriegszustands der vergangenen Jahre, Embargos und der fortgesetzten Bedrohung durch die Türkei werden Forschung und Lehre in den Autonomiegebieten von Nord- und Ostsyrien nicht ausgesetzt. Die Aktivitäten der Selbstverwaltung im akademischen Bereich sind darauf ausgerichtet, den Ausbau des demokratischen Bildungsmodells, in dem Vielfalt, Offenheit, Partizipation, Mehrsprachigkeit, Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung grundlegend verankert sind, weiter voranzutreiben – trotz aller Einschränkungen.

Das Bildungsmodell der Universitäten der Selbstverwaltung stützt sich auf freies und demokratisches Denken. Anstelle eines paternalistischen Erziehungssystems wird eine gleichgestellte Beziehung zwischen Studierenden und Lehrkräften angestrebt, auf Grundlage eines auf Kommentierung basierenden wissenschaftlichen Modells, statt des Systems des Auswendiglernens. Drei Universitäten hat die Autonomieverwaltung Nord- und Ostsyriens seit der Revolution von Rojava bereits gegründet: Die erste Universität wurde 2015 in Efrîn eröffnet, 2016 folgte die Rojava-Universität in Qamişlo. 2017 wurde die Universität Kobanê eingerichtet. Nach der Besatzung von Efrîn durch die Türkei im Frühjahr vor drei Jahren wechselten die meisten Studierenden nach Qamişlo oder Kobanê.

Mit der Zanîngeha Şerq in Raqqa hat die Autonomieverwaltung nun die vierte Hochschule in der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyrien gegründet. Am Wochenende wurde die Universität offiziell eingeweiht, bewerben konnten sich Studierende für einen Studiengang bereits seit Juli. Die Şerq-Universität (ar. Al-Sharq) verfügt über jeweils zwei Fakultäten und Institute: Die Philosophische Fakultät, die für Forschung und Lehre in den Geisteswissenschaften zuständig ist und in der das Institut für arabische Sprache untergebracht ist; die Sozialwissenschaftliche Fakultät mit den Fachbereichen Mathematik, Physik, Chemie und Biologie sowie das Institut für Pädagogik. Der Sitz der Universität befindet sich im Bezirk al-Mashlab im Osten der Stadt. Es handelt sich um jenes Viertel, das als erstes von den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) vom Terrorregime der Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) befreit worden war.

An der Eröffnungszeremonie beteiligten sich Menschen aus Politik, Zivilgesellschaft und militärischen Strukturen

Nach Angaben von Issa al-Abdullah, dem Ko-Vorsitzenden der Universität Şerq, herrschte hoher Andrang während der Bewerbungsfrist. Insgesamt haben sich rund 600 Frauen und Männer für einen Studienplatz beworben, etwa 210 erhielten eine Zusage. „Unsere Aufnahmekriterien sind zu siebzig Prozent die Schulnoten und zu dreißig Prozent persönliche Gespräche“, so al-Abdullah. Sollten Bewerberinnen und Bewerber die Zulassungsvoraussetzungen der Zanîngeha Şerq nicht erfüllen können, so bedeutet dies nicht, dass ein Studium an der Universität unmöglich ist. In diesem Fall gibt es die Möglichkeit, an Zulassungsprüfungen teilzunehmen. Die Vorlesungszeit für Erstsemester hat derweil bereits im Oktober begonnen.

Ein historischer Tag

„Sicherlich war es unter den gegebenen Bedingungen – die anhaltenden Bedrohungen durch den türkischen Staat, die grassierende Covid-19-Pandemie sind nur zwei Probleme, die wir haben – schwierig, unsere Universitätslandschaft auszubauen“, sagte al-Abdullah bei der Eröffnungszeremonie. Doch trotz aller Schwierigkeiten sei es gelungen, die Hochschule zu eröffnen, um jungen Menschen eine hochwertige Ausbildung zu ermöglichen. „Das ist ein historischer Tag.“

Die Befreiung von Raqqa

Nachdem die irakische Stadt Mosul 2014 vom IS besetzt wurde, marschierten die Dschihadisten mit den dort erbeuteten Waffen in Raqqa ein, einer der größten Städte Syriens. Die Al-Qaida-Gruppe Jabhat al-Nusra und die sogenannte Freie Syrische Armee (FSA) gaben die Stadt auf. Wenig später wurde Raqqa zur Hauptstadt des „IS-Kalifats“ ernannt und mit einer an der salafistischen Interpretation der Scharia orientierten Schreckensherrschaft überzogen. Von Raqqa aus übernahm der IS Schritt für Schritt weitere nordsyrische Städte und richtete sein Augenmerk im September 2014 auf Kobanê. Der IS griff die Stadt an drei Fronten an, stieß dort aber auf einen unvergleichlichen Widerstand. In Kobanê erlitt die Terrormiliz ihre erste Niederlage und wurde von nun an Stück für Stück in sein Zentrum Raqqa zurückgedrängt.

Am 6. Juni 2017 begannen die Demokratischen Kräfte Syriens eine Offensive zur Befreiung von Raqqa und konnten die dortige IS-Herrschaft nach fünf Monaten heftiger Gefechte am 17. Oktober beenden. Die Erklärung zur Befreiung der Stadt gaben die an vorderster Front gegen den IS kämpfenden Frauenverteidigungseinheiten YPJ ab. Diese Erklärung wurde der ganzen Welt auf dem Al-Naim-Platz verkündet, wo der IS zuvor öffentliche Hinrichtungen durchführte. Die Verwaltung der befreiten Stadt Raqqa wurde nach kurzer Zeit einem bereits im April in Ain Issa gegründeten Zivilrat übergeben.