Kurdischer Journalist im Fadenkreuz der türkischen Justiz

Gleich zwei Mal muss sich der Journalist Ahmet Kanbal wegen der „Enthüllung der Identität von Personen, die mit der Terrorbekämpfung befasst sind”, vor der türkischen Justiz verantworten. In einem Fall wurde er von einem Kriegsverbrecher verklagt.

Der kurdische Investigativjournalist Ahmet Kanbal steht seit Jahren im Fadenkreuz der türkischen Justiz. In etlichen Verfahren musste sich der Reporter der Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA) wegen vermeintlicher Terrorpropaganda verantworten, etwa wegen Berichten über Korruption und Klientelismus in den zwangsverwalteten Rathäusern in kurdischen Städten oder zu Artikeln im Zusammenhang mit dem türkischen Angriffskrieg gegen den ehemals selbstverwalteten Kanton Efrîn in Nordsyrien 2018. Vergangenes Jahr stand Kanbal unter dem umstrittenen Paragrafen 301, der die „Beleidigung der türkischen Nation, des Staates der türkischen Republik und der Institutionen und Organe des Staates“ verbietet, unter Anklage. Er war beschuldigt worden, den Innenminister beleidigt zu haben. Nun wurde binnen weniger Wochen gleich zwei Mal Anklage gegen Kanbal wegen des Vorwurfs der „Benennung von Akteuren im Kampf gegen den Terror” erhoben. In einem Fall ist der Journalist sogar von einem bekannten Kriegsverbrecher verklagt worden.

Polizei terrorisiert Minderjährigen zur Spitzelanwerbung

Doch zunächst zum jüngeren Ermittlungsverfahren. „16-Jähriger in knapp drei Jahren 30 Mal festgenommen – Mutter misshandelt“ – so in etwa lautete die Schlagzeile eines Berichts von Kanbal, der am 19. November 2020 bei MA erschien. Darin ging es um den 16 Jahre alten F.A. aus Nisêbîn (tr. Nusaybin), der seit seinem 13. Lebensjahr im Visier von Antiterroreinheiten der türkischen Polizei ist. Das erste Mal festgenommen wurde der Jugendliche kurz nach der Verhaftung seines Vaters Anfang 2018. Als Kanbals Artikel erschien, hatte der Junge bereits mehr als 30 Festnahmen über sich ergehen lassen müssen. In keinem einzigen Fall gab es eine juristische Grundlage. Vielmehr ging die Polizei willkürlich vor, um F.A. als Informanten anzuwerben. Dieser beugte sich trotz Drohungen und Misshandlungen dem Druck nicht und auch seine Familie forderte die Antiterroreinheiten immer wieder auf, den Jugendlichen in Ruhe zu lassen. Damit hatten die verantwortlichen Beamten unter der Leitung des Polizeikommissars Yaşar Ç. offenbar ein Problem. Als Felek A. am 16. November 2020 die Bezirkspolizeidirektion in Nisêbîn aufsuchte, weil ihr Sohn an jenem Tag gewaltsam von der Polizei aus dem Familienbetrieb verschleppt worden war, wurde sie auf der Wache misshandelt. Auch F.A. war dort am selben Tag verprügelt worden. Im Zuge eines von Felek A. angestrengten Ermittlungsverfahrens kam später raus, dass Yaşar Ç. die Aufnahmen aus den Überwachungskameras löschen ließ. Der Prozess gegen die Polizisten dauert zwar noch an, kommt aber kaum voran. Niemand glaubt an eine Bestrafung der Täter.

F.A. wird im Geschäft seines Bruders von Polizisten in Zivil an einem Stuhl fixiert.

Zügiges Verfahren gegen Journalisten

Das Verfahren gegen Ahmet Kanbal dagegen kommt zügig voran und wird von der Generalstaatsanwaltschaft Nusaybin mit einem Verstoß gegen Paragraf 6/1 des türkischen Antiterrorgesetzes begründet. Der Artikel regelt das „Verbot der Enthüllung der Identität von Personen, die mit der Terrorbekämpfung befasst sind, oder anderer Personen, die so zur Zielscheibe von Gewalttaten werden könnten, ferner die Ankündigung, dass gegen bestimmte feststellbare Personen von Terroristen Gewalttaten begangen werden könnten“. Nicht erforderlich ist, dass es tatsächlich zu einem Anschlag gegen die genannten Personen kommt. Bei einem Verstoß steht darauf nach türkischem Recht eine Freiheitsstrafe zwischen einem und drei Jahren.

Kanbal hatte bei seinem Bericht den Polizeikommissar der Hauptwache in Nisêbîn namentlich benannt. Diese Woche musste er sich in der Antiterrorzentrale der Provinzhauptstadt Mêrdîn (Mardin) zu den Vorwürfen äußern. Nach Kanbals Angaben beschäftigten sich die Beamten hauptsächlich mit seinen Informanten und forderten den Journalisten auf, seine Quellen preiszugeben. Insbesondere hätten sie in Erfahrung bringen wollen, wie Kanbal an die Identitäten der Polizisten kam, die F.A. seit Jahren zur Spitzelanwerbung terrorisieren. Wann der Prozess beginnen soll, ist unklar. Die Anklageschrift muss noch formell von einem Gericht angenommen werden.

Von Musa Çitil verklagt

Das andere Verfahren gegen Ahmet Kanbal wegen „Benennung von Akteuren im Kampf gegen den Terror” wurde von Musa Çitil angestrengt. Der Name dieses Generalleutnants der türkischen Streitkräfte hat sich spätestens in den frühen 1990er Jahren durch Massaker, Folterungen und Vergewaltigungen in das kollektive Gedächtnis der kurdischen Gesellschaft eingebrannt. Mehrfach wurde ihm vorgeworfen, Kurdinnen und Kurden, die er in Untersuchungshaft nahm, sexuell missbraucht, gefoltert oder getötet zu haben. Die türkische Justiz sprach ihn jedes Mal frei - und der Staat beförderte ihn.

Musa Orhan und Musa Çitil: Vergewaltiger im Dienste des Staates

Als mit dem Suizid der 18-jährigen Kurdin Ipek Er aus Êlih (Batman) im vergangenen Jahr mit Musa Orhan der Name eines anderen Vergewaltigers in den Reihen der türkischen Armee in die Öffentlichkeit gelangte, war die Empörung groß. Auch deshalb, weil der Unteroffizier der Jandarma (Militärpolizei) seit Bekanntwerden der Tat von der türkischen Justiz geschützt wird und sich nach wie vor auf freiem Fuß befindet. Die renommierte Menschenrechtsanwältin Eren Keskin, die zugleich Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD ist, hatte mit Blick auf den staatlichen Umgang mit Musa Orhan in einem Interview mit Artı Gerçek Parallelen zur Straffreiheit für Musa Çitil gezogen. „Jahre zuvor gab es vor Musa Orhan einen anderen Musa, nämlich Musa Çitil. In den 90ern war er Kommandant in Mardin. Wegen der Vergewaltigung an Ş.E. wurde er zwar angeklagt, aber freigesprochen. Jahre später tauchte er in Diyarbakir als Kommandant von Sur auf.“ Wegen dieser Äußerung verklagte Çitil sowohl Eren Keskin als auch die Journalistin Yağmur Kaya, die das Interview führte, sowie Ahmet Kanbal. Dieser hatte Keskins Worte in einem Beitrag auf Twitter im Zusammenhang mit Süleyman Soylu zitiert. Der türkische Innenminister hatte sich damals öffentlich über die HDP beschwert, weil diese das Schicksal von Ipek Er „hochkochen“ würde und ihre Forderung nach der Verhaftung von Musa Orhan auf der Tagesordnung hielte, „um von ihren eigenen Verbrechen abzulenken“.

Prozess gegen Kanbal im Dezember

Verhandelt wird der von Çitil angestrengte Prozess im westtürkischen Aydın. Das Verfahren gegen Kanbal ist inzwischen abgetrennt worden und beginnt im Dezember.  Verhandlungstermine im Fall von Keskin und Kaya sind noch nicht bekannt.

Verantwortlich für Hinrichtung von Zivilisten

Musa Çitil war zwischen 1984 und 2000 als Regionalkommandant der paramilitärischen Gendarmerie fast durchgehend in Kurdistan stationiert, unter anderem in Wan, Amed und Dersim. In Dêrika Çiyayê Mazî bei Mêrdîn hatte Çitil in den Jahren 1993 und 1994 die Hinrichtung von 13 Zivilist:innen zu verantworten. Ebenfalls 1993 vergewaltigte er die damals 16-jährige Şükran Aydın, die am 29. Juni nach einem Überfall auf ihr Dorf Taşkın festgenommen wurde. Im November desselben Jahres wurde in Dêrika Çiyayê Mazî die damals 21-jährige Şükran Esen in Untersuchungshaft genommen. Nach ihrer Freilassung ging sie ins Ausland und erzählte jahrelang nichts von ihrem Erlebten. Als sie ihr Schweigen nicht mehr ertragen konnte, suchte sie bei der Rechtsanwältin Eren Keskin Hilfe und berichtete von mehreren Vergewaltigungen in Untersuchungshaft. Keskin strengte daraufhin gegen 405 Soldaten einen Prozess wegen Vergewaltigung an. In beiden Prozessen wurde Musa Çitil von der türkischen Justiz freigesprochen. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) dagegen wurde Ankara sowohl wegen den Vergewaltigungsfällen Çitils als auch anderen Verbrechen an Kurdinnen und Kurden mehrmals verurteilt.