Gericht ordnet Entlassung von kurdischen Medienschaffenden an

Nach sieben Monaten Untersuchungshaft hat ein Gericht in Ankara die Entlassung von neun kurdischen Medienschaffenden angeordnet. Für die Angeklagten steht der Prozess im Zusammenhang mit der „Lösungslosigkeit der Kurdistan-Frage“.

Nach sieben Monaten in Untersuchungshaft hat ein Gericht in Ankara am Dienstagabend die Entlassung von neun kurdischen Medienschaffenden angeordnet. Der Schritt erfolgte nach dem Prozessauftakt vor einer der großen Strafkammern in der türkischen Hauptstadt. Zahlreiche NGOs und Menschenrechtsorganisation beobachteten das Verfahren, darunter Reporter ohne Grenzen (RSF), International Press Institute (IPI), die Journalistengewerkschaft der Türkei (TGS), das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) und der Menschenrechtsverein IHD.

Angeklagt in dem Fall sind insgesamt zwölf Journalistinnen und Journalisten in der Tradition der freien kurdischen Presse. Elf von ihnen waren im Oktober festgenommen worden, neun landeten in Untersuchungshaft im Gefängnis-Komplex Sincan: Die Chefredakteurin der Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA), Diren Yurtsever, die MA-Korrespondent:innen Deniz Nazlım, Selman Güzelyüz, Berivan Altan, Hakan Yalçın, Emrullah Acar und Ceylan Şahinli sowie die JinNews-Mitarbeiterinnen Habibe Eren und Öznur Değer. Ihnen wird zur Last gelegt, sich mitgliedschaftlich für die PKK betätigt zu haben. Die Oberstaatsanwaltschaft plädiert für ein Strafmaß im oberen Bereich und fordert eine Verurteilung nach Artikel 314/1 des türkischen Strafgesetzbuches, der eine Höchststrafe von 15 Jahren Gefängnis vorsieht.

Die Anklageschrift in dem Verfahren ist 210 Seiten lang. Als Beweis für die Behauptung, dass MA und JinNews als „Pressekomitee der KCK“ arbeiten, legte der Staatsanwalt 129 Artikel vor, von denen wiederum sieben von ANF veröffentlicht wurden. Die Staatsanwaltschaft erklärt nicht, warum diese Beiträge als Beweismittel aufgenommen wurden und bezeichnet sie in der Anklageschrift als „sogenannte Nachrichten“. Es handelt sich um Meldungen aus dem Zeitraum zwischen Dezember 2020 und Oktober 2022, die verschiedene Themen wie rassistisch motivierte Angriffe auf Kurd:innen und Geflüchtete aus Syrien, das Newroz-Fest 2021 in Amed, Berichte über den Einsatz von Chemiewaffen durch die türkische Armee gegen die PKK-Guerilla, den Tag der kurdischen Sprache, die Haftbedingungen von Abdullah Öcalan und die Hungerstreiks in Gefängnissen in diesem Zusammenhang behandeln. | Foto: Kundgebung für die verhafteten Presseleute am 31. Oktober 2022 in Istanbul © Pirha


„Wir scheren uns nicht um die vom Staat gesetzten Grenzen“

Die Angeklagten bestritten zum Prozessauftakt die Vorwürfe. JinNews-Korrespondentin Öznur Değer äußerte zu ihrer Verteidigung auf Kurdisch, dass es bei dem Verfahren im Wesentlichen darum gehe, kritischen Journalismus zu kriminalisieren. „Journalismus bedeutet für mich: nach dem Warum zu fragen, die Gesellschaft zu betrachten, Relationen zu setzen, das große Ganze zu sehen, die Welt und sich selbst zu hinterfragen. Journalismus ist mehr Lebenseinstellung als Beruf und trägt zur öffentlichen Meinungsbildung und zur Synchronisation der Weltgesellschaft bei. Das ist es, was wir tun. Und eben deshalb wurden 33 kurdische Presseleute in den vergangenen elf Monaten verhaftet. Was uns alle vereint, ist nicht nur eine gemeinsame Identität, sondern die Tatsache, dass wir uns bei unserer Arbeit nie um die vom Staat gesetzten Grenzen scheren, sondern nur um die Grenzen des Journalismus.“

Journalist von Polizei zu Agententätigkeit gedrängt

MA-Reporter Deniz Nazlım monierte, dass die Anklage die Nachrichtenagenturen Mezopotamya und JinNews als kriminelle Strukturen behandele und gab an, in Polizeihaft zur Agententätigkeit gedrängt worden zu sein. Weiter ging er auf die Beweise gegen ihn ein. Dazu zähle ein Buch, das er von einem Gefangenen per Briefsendung erhalten habe. Es sei mit einem Zensurstempel versehen gewesen und im Verlauf einer Razzia während seiner Festnahme von der Polizei beschlagnahmt worden. „Aufgrund dieses Buches wird mir zur Last gelegt, der PKK als Bote gedient zu haben. Mit Blick darauf, dass die Versendung durch die Vollzugsleitung eines Gefängnisses abgesegnet wurde und es mir auf dem Postweg zugestellt wurde, ergibt sich die Frage: Wer hat sich als Kurier betätigt? Ich oder nicht eher doch Vollzugsbeamte und Angestellte der Post?“

Zwölf Seiten der Anklage sind Ausführungen zur PKK und ihres Dachverbands, der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) gewidmet. Als weitere Beweismittel werden unter anderem beschlagnahmte Speichermedien und Abhörprotokolle vorgelegt. Demnach wurde die Kommunikation der Angeklagten im Zeitraum zwischen Februar und September 2021 überwacht. Zudem wird die Aussage eines geheim gehaltenen Zeugen mit der Codierung „k8ç4b3l1t5” aufgeführt. Die besagt jedoch lediglich, dass die Beschuldigten für MA und JinNews gearbeitet haben | Foto: Der Journalist Hamdullah Bayram, der als Angeklagter Nummer 12 in das Verfahren eingebunden wurde. © Dîlan Karacadağ


Arbeitsbedingungen kurdischer Medien Gradmesser für Entwicklung des Landes

Die JinNews-Redakteurin Habibe Eren betonte, dass das juristische Vorgehen gegen die kurdische Presse aus der „Lösungslosigkeit der Kurdistan-Frage“ resultiert. „Dieser Prozess steht wie alle anderen Verfahren gegen kurdische Medienschaffende und ihre Institutionen in direktem Zusammenhang mit dem Unwillen zur Lösung des Konfliktes“, sagte Eren. Und je mehr sich dieser Konflikt vertieft, desto härter werde die Gangart gegen freie Medien. „Dann werden unsere Arbeitsbedingungen plötzlich zum Gradmesser für die Entwicklung dieses Landes. Wir landen vor Gericht, weil wir Gesellschaftsgruppen zu Wort kommen lassen, die Marginalisierung, Stigmatisierung und Verdrängung ausgesetzt sind: Kurdinnen und Kurden, nicht-muslimische Menschen, andere Unterdrückte.“ Für die Regierung sei das größte Problem, dass von diesen Journalist:innen eine Identität stiftende Wirkung ausgehe. Beispielsweise stärkten sie eine kurdische Identität, nicht die des türkischen Einheitsstaates.

Verteidigung: Angriff auf Medien, die sich Staatsräson nicht beugen

Rechtsanwalt Resul Temur bezeichnete das Verfahren als „Zensurprozess“. Der Fall stehe exemplarisch für den Umgang mit Medien in der Türkei, die sich der Staatsräson nicht beugten und weigerten, Erfüllungsgehilfen der Politik der Herrschenden zu sein. „Diese Journalistinnen und Journalisten sitzen auf der Anklagebank, weil sie sich dem Weg der Wahrheit gewidmet haben und auch mal den Staat unter die Lupe nehmen. Kurdische Medien zeigen seit vier Jahrzehnten diesen Mut. Eben deshalb gehören sie zur ‚Schule der freien Presse‘“, so Temur. Weiter betonte der Jurist, Voraussetzung für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens sei ein Anfangsverdacht, der in diesem Fall aber offensichtlich ebenso wenig bestanden habe wie ein handfester Beweis. Temur vermutet, dass die „Aussagen“ des anonym gehaltenen „Zeugen“ nur fabriziert und konstruiert wurden, um einen im Voraus festgelegten Schuldspruch für zu Unrecht angeklagte Medienschaffende herbeizuführen. Die Anklage sei im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass sich Polizei und Staatsanwaltschaft an kritischen Artikeln störten. „Ferner sieht das Pressegesetz bei strafrechtlich relevanten Vorkommnissen ausdrücklich vor, dass die Anklageerhebung innerhalb von vier Monaten nach Erscheinen der beanstandeten Beiträge erhoben werden muss. Diese Frist ist hier aber teils um Jahre überschritten worden“, bemängelte Temur und forderte die Freilassung aller Angeklagten.

Hamdullah Bayram bleibt als einziger der Angeklagten im Gefängnis

Das Gericht kam dem Antrag in neun Fällen nach. Hamdullah Bayram, der für die Zeitung „Yeni Yaşam“ arbeitet und erst im März als weiterer „Tatverdächtiger“ in das Verfahren eingebunden und verhaftet wurde, bleibt vorerst im Gefängnis. Die im gleichen Verfahren angeklagte MA-Reporterin Zemo Ağgöz ist im Mutterschutz und war bereits kurz nach ihrer Festnahme im Oktober freigelassen worden. Gegen den ehemaligen MA-Praktikanten Mehmet Günhan hatte das Gericht Meldeauflagen verhängt, er ist ebenfalls auf freiem Fuß. Der Prozess wird am 5. Juli fortgesetzt. Das Gericht ordnete die Ladung von Ferhat Çelik, dem Konzessionsinhaber von MA, als Zeugen an. Ebenso sollen die Zeugen der Anklage beim nächsten Verhandlungstermin vor Gericht erscheinen.