„Was den politischen Gefangenen angetan wird, ist Folter“

Politische Gefangene gelten in der Türkei als Staatsfeinde und werden auch bei offensichtlicher Haftunfähigkeit nicht freigelassen. Eine Entlassung nach Absitzen der regulären Strafe erfolgt in vielen Fällen nur gegen ein Reuebekenntnis.

Politische Gefangene gelten in der Türkei als Staatsfeinde und werden außerhalb des geltenden Rechts gestellt: Gewalt und Folter, Isolation, Verlegungen in weiter Entfernung von der Familie, Zensur, die Verweigerung von Besuch und Gesundheitsversorgung, die unmenschliche Einkerkerung von todkranken Menschen und das Festhalten von Gefangenen für Jahrzehnte gehören zum grausamen Alltag in türkischen Haftanstalten. Als besonders dramatisch gilt die Situation für kranke Gefangene, die trotz bestehender Haftunfähigkeit nicht freigelassen und einem schleichenden und quälenden Tod ausgesetzt werden. Zudem hat sich die Praxis etabliert, politische Gefangene auch nach dem Absitzen ihrer regulären Haftstrafe nicht freizulassen, wenn sie kein Reuebekenntnis ablegen.

Um dem entgegenzuwirken, haben sich Angehörige von politischen Gefangenen im November vergangenen Jahres zur Initiative „Wache für Gerechtigkeit“ zusammengeschlossen. Sie wollen die extreme Repression und die ständigen Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen sichtbar machen und die Einhaltung rechtlicher Standards erkämpfen. In mehreren Städten in der Türkei finden regelmäßig „Gerechtigkeitswachen“ statt, so auch in Amed (tr. Diyarbakir) seit 226 Tagen.

Heute versammelten sich die Angehörigen vor dem rechtsmedizinischen Institut (ATK) in Amed. „Der Zustand der kranken Gefangenen wird mit jedem Tag schlechter“, erklärte Herdem Mervanî, „Trotzdem wird ihnen eine Haftfähigkeit bescheinigt. Das ATK handelt uns gegenüber ideologisch, wir werden als Feinde betrachtet. Wir appellieren heute und hier ein weiteres Mal an das ATK, diese politische Feindseligkeit aufzugeben und realistisch zu sein.“

Wir halten an unseren Forderungen fest“

Auch Nazime Boltan meldete sich zu Wort. Ihr Sohn Civan Boltan befindet sich seit 2012 in türkischer Haft. In jenem Jahr wurde er auf Grundlage der Antiterrorgesetzgebung und „staatsfeindlichem Handeln“ im Zusammenhang mit seiner Zugehörigkeit zur kurdischen Guerilla zu einer erschwerten lebenslangen Haftstrafe plus weiteren 95 Jahren und vier Monaten Gefängnis verurteilt. Bevor Boltan als Guerillakämpfer in Gefangenschaft geriet, versuchte er sich mit einer Handgranate in die Luft zu sprengen. Dabei wurde sein rechter Arm zerfetzt, außerdem verlor er die Sehfähigkeit auf dem linken Auge. Rund siebzig Schrapnelle durchbohrten seinen Körper, das größte steckt bis heute in seinem Schädel. Als Soldaten ihn entdeckten, wurde er für tot gehalten. Nachdem in einem Krankenhaus festgestellt wurde, dass er noch lebte, führten massive Schläge von Militärs zu schweren Verletzungen auf dem verbliebenen Auge, von dem heute nur noch 30 Prozent intakt sind. Sein gesunder Arm wurde an mehreren Stellen gebrochen. Vermutlich deshalb leidet Civan Boltan heute an dem Raynaud-Syndrom – attackenartigen Durchblutungsstörungen in den Fingern mit Verfärbung der betroffenen Bereiche, Missempfindungen, Taubheitsgefühl und Schmerzen.

„Was es im Staat Türkei nicht gibt, ist ein Gewissen. Wenn es so etwas gäbe, würde eine Lösung für unsere Kinder gefunden werden“, sagte Nazime Boltan vor dem gerichtsmedizinischen Institut. „Wir werden unsere Aktionen fortsetzen, bis unsere Forderungen erfüllt werden. Ich habe meinen Sohn seit ungefähr fünf Jahren nicht gesehen. Was unseren Kindern und uns angetan wird, ist Folter. Wir kämpfen für unsere Identität und werden niemals bereuen, dass wir Kurden sind. In der Türkei gibt es keine Gerechtigkeit. Gäbe es eine funktionierende Justiz, müssten wir Mütter nicht jeden Tag auf der Straße Gerechtigkeit einfordern.“