Samstagsmütter fordern Bestrafung der Mörder von Süleyman Cihan

Die Istanbuler „Samstagsmütter“ haben die Bestrafung der Verantwortlichen des Mordes an Süleyman Cihan gefordert. Der Kurde war nach Ibrahim Kaypakkaya der zweite Generalsekretär der TKP/ML. 1981 wurde er festgenommen und in Gewahrsam zu Tode gefoltert.

Die Istanbuler Initiative der Samstagsmütter hat die Bestrafung der Verantwortlichen des Mordes an Süleyman Cihan gefordert. Der 1950 in Dersim geborene Kurde war Lehrer und nach Ibrahim Kaypakkaya der zweite Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Türkei / Marxistisch-Leninistisch (TKP/ML). Am 29. Juli 1981 wurde er auf dem Weg nach Istanbul bei einer Verkehrskontrolle von Zivilfahndern festgenommen. Obwohl Süleyman Cihan einen falschen Ausweis bei sich trug, konnte die Polizei ihn noch am Ort der Festnahme identifizieren – weil er von einer Überläuferin denunziert worden war. Seine Familie schaltete sofort Rechtsanwälte ein, nachdem eine Zeugin sie über den Vorfall informiert hatte, aber die Behörden leugneten, den Revolutionär festgenommen zu haben.

Für die Zeit nach Süleyman Cihans Festnahme, in der er sich auf einer Odyssee durch Folterkammern und Verhörstuben befand, gibt es insgesamt 23 Tatzeugen. Auch gibt es Zeugen, die gesehen haben, wie sein Leichnam von Polizisten aus einem Istanbuler Hochhaus geworfen wurde. Nachdem der Vater von zwei Kindern zu Tode gefoltert worden war, hatten die türkischen Behörden es so aussehen lassen wollen, als habe er Selbstmord begangen. 85 Tage nach Cihans Verschleppung konnte ihn sein Vater auf einem „Friedhof für Namenlose“ ausfindig machen

Tat als „Mord unbekannter Täter” verjährt

Obwohl die Schuldigen des Verschwindenlassens von Süleyman Cihan schon früh bekannt waren und es zahlreiche Beweise für ihre Täterschaft gab, wurden sie nicht vor Gericht gebracht. Die Akte wurde so lange als „Mord unbekannter Täter” unbeachtet gelassen, bis der Fall schließlich verjährt war. Als Hauptverantwortlichen für die Tötung des Lehrers sehen die Samstagsmütter den früheren Justiz- und Innenminister Mehmet Ağar, der die Verflechtung von Politik, Polizei und Mafia in der Türkei geradezu symbolisiert. Zum Zeitpunkt von Cihans Festnahme war Ağar Leiter der Abteilung für öffentliche Sicherheit der Istanbuler Polizeibehörde, seine Unterschrift tauchte unter einer Reihe gefälschter Berichte auf, in denen als Todesursache Selbstmord angegeben war. Später diente Ağar in Istanbul noch als Polizeichef für Terror und öffentliche Ordnung. In seiner Amtszeit setzte der türkische Staat systematisch rechtsgerichtete Mafiastrukturen als Handlanger ein, um kurdische Politiker, Geschäftsleute und unbequeme Personen zu töten. Bis er 1995 erstmals ins türkische Parlament gewählt wurde, berief die Regierung ihn unter anderem noch in die Polizeiabteilung von Ankara, in das Gouverneursamt von Erzurum und in die Generaldirektion der Polizei.

„Wir lassen uns nicht entmutigen“

„Der Staat soll wissen, dass wir uns nicht entmutigen lassen werden. Unser Kampf für Gerechtigkeit für die Verschwundengelassenen wird erst enden, wenn alle Täter zur Rechenschaft gezogen worden sind“, sagte die Aktivistin Hanım Tosun bei der inzwischen 906. Mahnwache der Samstagsmütter. „Wenn wir tot sind, werden unsere Enkelkinder den Widerstand schultern. Den Mördern wird keine Ruhe gelassen, bis ihre Verbrechen gesühnt sind.“ Tosuns Ehemann Fehmi gehört ebenfalls zu den „Verschwundenengelassenen”. Er wurde 1995 zusammen mit einem Freund in Istanbul festgenommen und tauchte danach nie wieder auf. „Nur durch die Aufarbeitung der Vergangenheit und Bestrafung der Täter wird der Straflosigkeit ein Ende gesetzt. Diejenigen, die Verbrechen der Vergangenheit verschweigen, ebnen den Weg für neue“, so Hanım Tosun.

Längste Aktion des zivilen Ungehorsams

Seit über 27 Jahren fordern die Samstagsmütter Aufklärung über ihre in Polizeigewahrsam verschwundenen Angehörigen. Es ist die am längsten andauernde Aktion des zivilen Ungehorsams in der Türkei, die am 27. Mai 1995 mit der Sitzaktion der Familie des durch Folter ermordeten Lehrers Hasan Ocak begann. Geschätzt 17.000 Menschen, darunter Journalist:innen, Politiker:innen und Menschenrechtsaktivist:innen, „verschwanden“ in den achtziger und neunziger Jahren in der Türkei, vor allem in den kurdischen Regionen. Oftmals wurden ihre Leichen in geheime Massengräber auf Militärstützpunkten, aber auch auf Müllkippen oder in Brunnenschächte geworfen. Weder Polizei noch Justiz haben Maßnahmen zur Aufklärung ergriffen.

Seit dem Widerstand im Istanbuler Gezi-Park 2013 sind Protestaktionen auf dem Platz vor dem Galatasaray-Gymnasium verboten. Nur die Samstagsmütter durften hier weiter protestieren. Doch mit der Anschuldigung einer „Nähe zur PKK“ wurde am 25. August 2018 die 700. Mahnwache der Initiative verboten und gewaltsam aufgelöst. Bis zum Ausbruch der Covid-19-Pandemie verlegten die Samstagsmütter ihre wöchentlichen Sit-Ins deshalb in eine Seitenstraße vor das Gebäude des IHD. Seit Corona werden die Zusammenkünfte virtuell abgehalten.