Istanbul-Pride: „Der Staat hat LGBTIQ+ den Krieg eröffnet“

In Istanbul haben mehr als 370 Menschen eine Nacht in Polizeigewahrsam verbringen müssen, nachdem sie an einer verbotenen Pride-Parade teilgenommen haben. Etwa zehn Betroffene sind Flüchtlinge, die in Abschiebezentren gebracht worden sein sollen.

In der westtürkischen Metropole Istanbul haben mehr als 370 Menschen eine Nacht in Polizeigewahrsam verbringen müssen, nachdem sie an Protesten für die Rechte von lesbischen, schwulen, bisexuellen, transgender, intersexuellen und queeren Menschen (LGBTIQ+) teilgenommen hatten. So viele Festnahmen habe es in der Geschichte der Pride-Parade in der Türkei noch nicht gegeben, erklärte die Organisation Kaos GL am Montag bei einer Presseerklärung im Menschenrechtsverein IHD. „Der Staat hat queeren Menschen den Krieg eröffnet“, sagte ein Mitglied von Kaos GL.

Unter dem Motto „Widerstand“ hatten am Sonntag zahlreiche Menschen in Istanbul trotz Verbots an einer Pride-Parade mit dem Titel „Marsch des Stolzes“ teilgenommen. Zu der Demonstration hatten verschiedene queere Gruppen und Kollektive im Rahmen der Pride-Woche aufgerufen. Sie kritisierten unter anderem ein zunehmendes LGBTIQ-feindliches „Klima des Hasses“ im Land. Außer dem Marsch waren auch alle anderen Veranstaltungen im Vorfeld des Marsches untersagt worden.

Pressekonferenz von Kaos GL und der LGBTIQ-Kommission des IHD | Foto: Kaos GL

Die Polizei hatte versucht, die Pride-Parade zu unterbinden und bereits im Voraus weiträumig Straßen abgesperrt. Einige Metrostationen blieben über mehrere Stunden geschlossen. Dennoch gelang es hunderten Demonstrierenden, sich mit Regenbogenfahnen in den Straßen rund um den abgesperrten Taksim-Platz zu versammeln. Sie widersetzten sich der Polizei und zogen etwa eine Stunde lang durch das Viertel Cihangir und riefen dabei immer wieder „Die Zukunft ist queer“ und „Ihr seid nicht allein“, aber auch „Diskriminierung ist ein Verbrechen“ oder „Morde an trans Personen sind politisch“.

Insgesamt wurden Kaos GL zufolge 373 Personen bei der Istanbuler Pride-Parade festgenommen. Noch am Montag wurden die meisten wieder auf freien Fuß gesetzt. Nach Angaben der LGBTIQ-Kommission des IHD handelt es sich bei rund zehn der Festgenommenen um Flüchtlinge, die aus der Polizeihaft heraus in ein Abschiebezentrum gebracht worden seien. „Wir haben keine Informationen über ihren derzeitigen Aufenthaltsort“, sagte eine Kommissionssprecherin.

Darüber hinaus beklagte der IHD massive Gewalt, Diskriminierung und Hatespeech gegen Teilnehmende der Pride-Parade, Vertreterinnen und Vertreter der Presse sowie Festgenommene. Schon bei den Ingewahrsamnahmen war es zu Misshandlungen durch die Polizei gekommen, viele Betroffene mussten stundenlang in Einsatzfahrzeugen ausharren, ohne ihr Recht auf Flüssigkeitszufuhr wahrnehmen zu dürfen. Einer Person soll zudem in Gewahrsam der Arm ausgekugelt worden sein.

Aber auch Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte seien Opfer von Polizeigewalt geworden, erklärte die Kommission. So habe ein Kommissar des Präsidiums Vatan im Beisein der Anwältinnen Jiyan Kaya und Jiyan Tosun einer Juristin in den Genitalbereich getreten, eine andere Kollegin sei vor die Brust gestoßen und geschubst worden. „Wir verurteilen die Gewalt gegen die LGBTIQ-Community und jegliche diskriminierende Behandlung durch Sicherheitskräfte. Wir fordern den türkischen Staat auf, sich an nationale Gesetze und internationale Konventionen zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu halten“, erklärte die LGBTIQ-Kommission der Istanbuler IHD-Zweigstelle.


„Der Staat hat queeren Menschen den Krieg eröffnet“ lautet auch der Titel einer Bilanz über die Repression gegen die LGBTIQ-Community im Pride-Monat Juni, die von Kaos GL erstellt wurde und in türkischer sowie englischer Sprache abrufbar ist.