Emrullah Acar: „Wir schreiben weiter, zur Not auch allein“

Emrullah Acar ist einer von Dutzenden Journalisten, die in den vergangenen Monaten in der Türkei verhaftet wurden. Wenn sich niemand gegen die Angriffe auf die Pressefreiheit ausspricht, wird es bald keine Medien mehr geben, die die Wahrheit berichten.

Reporter ohne Grenzen (RSF) stuft die Türkei auf der Liste der Pressefreiheit auf Platz 165 von 180 Ländern ein, und der Druck auf Journalist:innen hält an. Neben Zensur und Repression sind laut dem jüngsten Bericht der Journalistenvereinigung Dicle Firat (DFG) 77 Medienschaffende aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit in türkischen Gefängnissen inhaftiert.

Medienschaffende, die in der Tradition der „Freien Presse“ arbeiten, sind diejenigen, die am meisten unter der AKP-Politik der Zensur und Unterdrückung zu leiden haben. In den letzten Wochen wurden die Ko-Vorsitzende der DFG, Dicle Müftüoğlu, Abdurrahman Gök, Sedat Yılmaz und Mehmet Şah Oruç von der Agentur Mezopotamya (MA), die JinNews-Reporterin Beritan Canözer sowie die Journalisten Mikail Barut und Remzi Akkaya verhaftet.

Die Journalist:innen Diren Yurtsever, Selman Güzelyüz, Deniz Nazlım, Berivan Altan, Emrullah Acar, Hakan Yalçın, Ceylan Şahinli, Hakan Yalçın, Habibe Eren und Öznur Değer, die am 25. Oktober 2022 festgenommen und am 29. Oktober im Rahmen eines von der Generalstaatsanwaltschaft Ankara geführten Ermittlungsverfahrens wegen „Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" verhaftet worden waren, wurden am ersten Prozesstag vor dem Vierten Hohen Strafgericht von Ankara am 16. Mai freigelassen. Der im selben Verfahren am 16. März 2023 festgenommene Journalist Hamdullah Bayram ist weiterhin in Untersuchungshaft.

Der MA-Korrespondent Emrullah Acar hat sich zwei Wochen nach seiner Freilassung über den Druck gegen Journalist:innen und die Rechtsverletzungen, denen sie im Gefängnis ausgesetzt waren, geäußert.

Sieben Monate in Isolationshaft

Acar erklärte, dass die Rechtswidrigkeit, die während der Festnahme begann, sich während der Haft fortsetzte. Die erlebten Rechtsverletzungen schilderte er wie folgt: „Wir wurden in das Hochsicherheitsgefängnis Sincan Nr. 1 gebracht, in dem Gefangene mit schweren Haftstrafen untergebracht sind. Obwohl wir Untersuchungsgefangene waren, wurden wir unter den Bedingungen von Strafgefangenen mit schweren lebenslangen Haftstrafen gehalten. Wir waren sieben Monate lang in Einzelzellen untergebracht. Unser Recht auf Hofgang war auf eineinhalb Stunden pro Tag beschränkt. Das einzige Fenster der Zelle war mit Eisenstangen verschlossen und zusätzlich mit einem Drahtgitter versehen. Gefangene unterschiedlicher Kategorien von Straftaten werden auf denselben Fluren untergebracht. So befanden sich beispielsweise in einem Korridor sowohl PKK-Mitglieder als auch IS-Mitglieder und Militärs, die am 15. Juli 2016 verhaftet wurden. Weil wir als Journalisten über die Rechtsverletzungen im Gefängnis schrieben, wurden wir bedroht."

Unser einziges „Verbrechen“ waren unsere Nachrichten

Der zunehmende Druck der Regierung ziele darauf ab, die Journalist:innen aus der Tradition der Freien Presse zum Schweigen zu bringen, sagte Acar: „Die Verhaftungen sind eine Botschaft an alle Journalistinnen und Journalisten, die die Wahrheit schreiben." Acar wies darauf hin, dass der Druck auf die Freie Presse vor den Wahlen am 14. Mai zugenommen habe, und sagte: „Wenn wir uns die Fragen ansehen, die uns nach der Festnahme gestellt wurden, und die Zusammenfassungen der Polizei, die sich in der Anklageschrift widerspiegeln, dann war unser einziges ,Verbrechen', das Gegenstand der Untersuchung war, unsere Nachrichtenberichte. Wir wurde vier Monate nach unserer Verhaftung angeklagt. In der Akte wurde unsere Berichterstattung über Rechtsverletzungen in Gefängnissen und die Isolierung von Abdullah Öcalan als Straftat bewertet. Nicht wir wurden angeklagt, sondern unser Journalismus. Obwohl es keine konkreten Beweise gab, wurden wir für etwa sieben Monate inhaftiert."

Die Wahrheit wird nicht im Dunkeln bleiben

Acar unterstrich, dass das Hauptziel der Operationen gegen Journalist:innen darin bestehe, die Wahrheit im Dunkeln zu lassen: „Dieses Ziel wurde jedoch nie erreicht. Nach unserer Verhaftung verfolgten wir die Agenda im Rahmen unserer Möglichkeiten und sahen, dass unsere Kolleginnen und Kollegen eine außergewöhnliche Leistung zeigten, um die Öffentlichkeit weiter zu informieren. Dass ein Journalist so viel Mühe wie zwei Journalisten aufbrachte und dass viele Menschen nach unserer Verhaftung bei der Freien Presse zu arbeiten begannen, hat unsere Moral gestärkt. Die Tatsache, dass die Stimme der Freien Presse, die mit Festnahmen und Verhaftungen zum Schweigen gebracht werden sollte, lauter geworden ist, hat denjenigen, die uns mit Polizeiberichten belasten, folgende Botschaft übermittelt: Selbst wenn nur noch ein einziger Mitarbeiter der Freien Presse draußen ist, wird die Wahrheit nicht im Dunkeln bleiben."

Wir werden anstelle unserer verhafteten Kollegen schreiben"

Er selbst sei durch den am 27. April verhafteten MA-Redakteur Abdurahman Gök zur Arbeit in der Freien Presse motiviert worden, erzählte Acar. Gök hatte nach Massenfestnahmen von Kolleginnen und Kollegen im Jahr 2011 vor laufender Kamera erklärt: „Wir werden anstelle unserer verhafteten Kollegen schreiben." Acar sagte: „Ich war damals 15 Jahre alt, Göks Worte haben mich sehr berührt und mich ermutigt, Journalist zu werden."

Um der Wahrheit willen sollten alle sich für die Mitarbeiter:innen der Freien Presse einsetzen, forderte Emrullah Acar: „Wer sich als demokratisch bezeichnet, darf zu den Angriffen nicht schweigen, das ist die Pflicht aller. Wenn heute keine Stimme gegen die Angriffe auf die Freie Presse erhoben wird, könnte es morgen keine Medien mehr geben, die über die totalen Angriffe auf die Dynamik der Gesellschaft berichten. Lasst uns gemeinsam die Stimme der Wahrheit erheben."