Salih Muslim: Erkennen, wer Freund und wer Feind ist

Bis vor wenigen Jahren hat niemand erwartet, dass die Kurd:innen einen Raum in der internationalen Gleichung im Mittleren Osten einnehmen. „Der gesamte Krieg hier findet statt, um die Kurden aus dieser Gleichung zu streichen“, sagt Salih Muslim.

„Seit Beginn des Krieges in Başûrê Kürdistanê [Südkurdistan] gibt es Gefallene aus allen Landesteilen, auch aus Kobanê, Hesêkê und Qamişlo. Das heißt, dass dieser Krieg das gesamte kurdische Volk etwas angeht“, sagt Salih Muslim. Zum Hintergrund der türkischen Angriffe erklärt der PYD-Politiker: „Die Hegemonialmächte haben begriffen, dass es nicht funktionieren wird, die Kurd:innen und Kurden nicht in die Gleichung einzubeziehen. Ohne die Kurden werden sie keine Lösung finden. Der gegen die Kurden geführte Krieg ist dazu da, die Kurden aus dieser Gleichung zu streichen. Dessen müssen sich die Kurdinnen und Kurden bewusst sein und deshalb müssen sie sich vereinen.“

Salih Muslim ist langjähriges Vorstandsmitglied der Partei für eine Demokratische Einheit (PYD). Im ANF-Interview hat sich der kurdische Politiker über die Isolation von Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali, die türkische Invasion in Südkurdistan, die Aktivitäten der PDK in den Guerillagebieten, den zunehmenden diplomatischen Verkehr mit Bagdad, den dauerhaften Besatzungsangriffen auf Nordostsyrien, die psychologische Kriegsführung, die Bemühungen um eine kurdische Einheit und die Autonomiebestrebungen in syrischen Gebieten wie Daraa und Suweida geäußert. Wir veröffentlichen den ersten Teil des Gesprächs.

Auf Imrali herrscht immer noch strenge Isolation. Das kurdische Volk ist dagegen überall auf der Welt in Aktion. Wie sehen Sie die Situation?

Die Öcalan-Frage ist zu einem ausschlaggebenden Wendepunkt geworden. Überall sagen Kurdinnen und Kurden, dass sie nichts gewonnen haben, wenn Rêber Apo [Abdullah Öcalan] nicht frei kommt. Oder dass alles nur vorübergehend war. Das weiß inzwischen auch der Feind. Seit Anfang an war die Isolationsfolter auf Imrali der Auslöser für Angriffe und Unterdrückung. Mit einem internationalen Komplott sollte der Bewegung der Kopf abgerissen und danach auch der Körper zerfetzt werden. Diese Politik hat immer noch Gültigkeit. Den Staat beunruhigt ein einziges Wort von Öcalan. Zumindest kennt er die Verbundenheit des kurdischen Volkes zu ihm. Er wird isoliert und gefoltert, um das Volk zu unterdrücken. Darum geht es bei dieser Angelegenheit. Und dagegen leistet das kurdische Volk überall Widerstand, in den Gefängnissen, auf den Straßen, in Europa, in Kurdistan. Es ist inzwischen allgemein bekannt, dass es nur einen Ansprechpartner für eine Lösung der kurdischen Frage gibt: Abdullah Öcalan. Nur er kann das kurdische Volk überzeugen. Es gibt keinen anderen Ausweg. Seine Isolation zeigt, dass nicht die Absicht besteht, ernsthafte Schritte für eine Lösung zu unternehmen. Die schlechten Absichten werden durch die Unterdrückung deutlich. Und dagegen leistet das Volk natürlich Widerstand, das wird es auch weiterhin tun. Welche Macht auch immer wirklich Stabilität im Mittleren Osten und eine Lösung der kurdischen Frage will, muss auf Imrali damit anfangen.

Die Isolation von Abdullah Öcalan ist durch kein Gesetz gerechtfertigt. Sie widerspricht türkischem Recht und der internationalen Rechtsprechung. Auch in ethischer Hinsicht ist sie nicht hinnehmbar. Ob in Europa oder irgendwo anders: Wenn von Menschlichkeit, Menschenrechten und einem Rechtswesen gesprochen wird, muss diese Tatsache berücksichtigt werden. Der türkische Faschismus tritt die Rechte der Kurden und die gesamte Gesetzgebung mit Füßen und geht mit völliger Willkür vor. Das muss von irgendwem gestoppt werden. Diese Aufgabe fällt auch den Kurdinnen und Kurden zu. Der türkische Staat sieht niemanden außer dem kurdischen Volk vor sich. Deshalb müssen alle demokratischen Kräfte und die Freundinnen und Freunde des kurdischen Volk ihre Stimme erheben.

Der türkische Staat setzt seine Angriffe auf Südkurdistan fort. Nach HPG-Angaben sind sieben Guerillakämpfer:innen in einem Hinterhalt der PDK ums Leben gekommen. Seit Beginn der Invasion beschränkt sich die PDK nicht mehr auf die Informationsweitergabe an den türkischen Geheimdienst MIT, sondern bewegt sich in immer größer werdenden Ausmaß in den Guerillagebieten. Wie beurteilen die Kurdinnen und Kurden in Rojava diese Situation? Und wie ist Ihre Haltung dazu?

Es findet dort ein Krieg statt, ein bewaffneter Konflikt zwischen der kurdischen Guerilla und dem türkischen Staat. Wer ist diese Guerilla? Sie besteht nicht nur aus Kurdinnen und Kurden, die aus Bakur gekommen sind. Dort sind Menschen aus allen Landesteilen zusammen gekommen, um Kurdistan zu verteidigen. Sie kommen aus Başûr, Rojava, Rojhilat und Bakur [Süden, Westen, Osten, Norden]. Seit Beginn des Krieges sind viele junge Menschen gefallen. Sie kamen aus Kobanê, Hesêkê, Qamişlo und allen anderen Teilen. Das bedeutet, dass dieser Krieg das gesamte kurdische Volk etwas angeht. Der türkische Staat greift nicht nur die Kurden aus dem Norden oder die PKK an, er führt Krieg gegen das kurdische Volk. Das bedeutet, dass auch seine Teilhaber gegen das gesamte kurdische Volk kämpfen.

Innerhalb der PDK gibt es ein Spektrum, das die Pläne der Türkei umsetzt und seinen Willen verkauft hat oder gefangen genommen wurde. Soweit wir es verfolgen können, handelt es sich bei den in die Guerillagebiete entsendeten Einheiten nicht um Peschmerga, sondern um eine Privatarmee der PDK. Diese Einheiten stehen unter dem Befehl bestimmter Fraktionen. Sie heißen Gûlan oder Zêrevanî und es ist bekannt, zu wem sie gehören. Es wird ein sehr gefährliches Spiel gespielt, das sich gegen das eigene Volk, seine Kräfte und die PDK selbst richtet. In Südkurdistan sind Werte erkämpft worden. Mit dem Krieg sägst du den Ast ab, auf dem du sitzt.

Wenn ein solcher Krieg wirklich explodiert und nicht mit Intelligenz gehandelt wird, wird vor allem und am meisten die PDK Schaden erleiden, die Fraktionen innerhalb der PDK selbst werden davon betroffen sein. Weil auch sie unsere Geschwister sind, wäre es das Beste, wenn sie umkehren und diesen Fehler rückgängig machen würden. Sie sagen, dass sie keinen Krieg führen, aber sie führen mit gesamter Kraft eine Belagerung durch und verhindern, dass Hilfe durchkommt und die Guerilla sich bewegen kann. Wenn die Guerilla in Südkurdistan von einem Ort in ein anderes Gebiet wechseln will, gerät sie in einen Hinterhalt. Das ist schlimm und es ist ein sehr gefährliches Spiel, das dem gesamten kurdischen Volk schadet.

Am Horizont zeichnet sich eine große Katastrophe ab

Als PYD sind zu allem bereit, um das zu stoppen. Wir wären auch zur Vermittlung bereit. Was immer von allen unseren Kräften hier verlangt wird, werden wir tun. Am Horizont zeichnet sich eine große Katastrophe ab. Wir tun alles, was in unseren Händen liegt, um sie zu verhindern. Die Folgen würden nicht nur den Süden treffen, sondern ganz Kurdistan. Ein Kind von Eltern hier kämpft dort gegen den türkischen Faschismus und fällt. Für die Familie ist das ein Grund zum Stolz. Wenn es jedoch von hinten erdolcht wird, was soll die Familie dann denken? Es ist von kurdischer Hand ermordet worden. Was soll man denken, wenn man gegen den Feind kämpft und von hinten erstochen wird? Daher sollte nicht davon ausgegangen werden, dass die Angelegenheit auf den Süden beschränkt bleibt. Ich denke, dass es Auswirkungen auf alle Teile Kurdistans haben wird. Die Gefahr ist groß und ich hoffe, dass die dortigen Kräfte zu Verstand kommen und davon Abstand nehmen. Alles andere bedeutet eine Katastrophe für die Kurden.

In Başûrê Kurdistanê und im Irak gibt es ständig neue Entwicklungen. In Bagdad hat eine internationale Irak-Konferenz stattgefunden. Emmanuel Macron hat Kurdistan besucht. Es gibt Diskussionen über die Situation der Kurden und den Beginn einer neuen Phase. Welche Entwicklungen sehen Sie voraus?

Ich denke, dass die Versammlung oder Konferenz in Bagdad vor allem mit dem Irak zu tun hatte. Es ging darum, dass sich weniger in die Angelegenheiten des Irak eingemischt werden soll und was die Nachbarstaaten für den Irak tun sollen. Der französische Präsident hat dabei weniger sein eigenes Land als vielmehr die NATO vertreten. Ich gehe davon aus, dass diese Gespräche fortgesetzt werden. Es wird weitere Versammlungen geben. Natürlich kommt auch die kurdische Frage darin vor. Macron ist im Anschluss nach Kurdistan gefahren und es gab sogar eine Initiative für eine Weiterfahrt nach Şengal. Von diesem Besuch ist er abgebracht worden, aber in seinem Plan kam auch die kurdische Frage vor.

Ich glaube, dass mit dieser Versammlung eine neue Achse entsteht. Früher gab es das Projekt „Neues Damaskus“, Irak-Damaskus-Ägypten. Das wird jetzt um die Golfstaaten erweitert. Im Zusammenhang mit der Mittelostpolitik wird eine neue Achse aufgebaut.

Wir bewegen uns durch seine sehr sensible Zeit. Bis vor wenigen Jahren hat niemand erwartet, dass die Kurden einen Raum in der internationalen Gleichung im Mittleren Osten einnehmen. Jetzt sehen wir, dass sowohl die Hegemonialmächte als auch die anderen mit den Mittleren Osten befassten Kräfte begriffen haben, dass sie ohne die Kurdinnen und Kurden keine Lösung finden werden und keine Gleichung ohne das kurdische Volk gemacht werden kann. Der gesamte Krieg hier findet statt, um die Kurden aus dieser Gleichung zu streichen. Das muss sich das kurdische Volk bewusst machen. Inzwischen kommen wir in der Gleichung des Mittleren Ostens vor. Ohne die Kurden ist keine Lösung denkbar. Deshalb sollten wir uns zusammenschließen. Wir sollten eins sein, in Wort und Tat. Um in dieser Gleichung eine positive Rolle für unser eigenes Volk und alle anderen Völker der Region spielen zu können, müssen wir erkennen, wer Freund und wer Feind ist.

Teil 2 folgt