Reportage aus Iran: Entschlossen, den Weg von der Revolution zur Freiheit zu gehen

Seit über zwei Monaten sind die Menschen in Rojhilat und Iran auf der Straße. Im achten und letzten Teil seiner Reportage berichtet Abdurrahman Gök von seinen Eindrücken aus Teheran.

Der Journalist Abdurrahman Gök berichtet für die Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA) seit einigen Tagen aus Iran und Rojhilat (Ostkurdistan) über die aktuelle Situation. Im achten und letzten Teil seiner Reportage vom 2. Dezember schreibt er:

Seit dem 16. September, als Jina Amini durch Polizeigewalt in Teheran ermordet wurde, dauern die Proteste in Iran mittlerweile an. Nach einem Bericht der Organisation Iran Human Rights vom 28. November wurden mindestens 448 Menschen, darunter 60 Kinder und 29 Frauen, durch Angriffe auf Demonstrationen getötet. 56 von 72 Todesopfern, die allein zwischen dem 16. und 21. November von Regimekräften ermordet wurden, stammten aus Rojhilat. Fast die Hälfte der Todesfälle in 26 der 31 iranischen Provinzen ereignete sich in der Provinz Sistan-Belutschistan sowie in Rojhilat. In Teheran wurden Berichten zufolge mindestens 43 Menschen bei Protesten getötet. Das sind die Zahlen von Menschenrechtsgruppen. Die meisten der von mir befragten Personen gaben jedoch an, dass viele Familien die Tötung ihrer Kinder aufgrund von Drohungen des Regimes verheimlichen mussten. Zu den vielen Toten kommen Tausende von Menschen, die verletzt wurden, und mehr als 18.000 Festnahmen.

Von Mahabad nach Teheran

Nachdem ich Städte in Rojhilat besucht habe, möchte ich die Situation in Teheran, der Hauptstadt Irans mit etwa 18 Millionen Einwohner:innen, beobachten. Ich fahre abends mit dem Bus von Mahabad los und komme morgens in Teheran an. Trotz der breiten Straßen ist der Verkehr ab dem Eingang von Teheran sehr dicht und die Fahrzeuge kommen nur langsam voran. Etwa eine Stunde nach der Einfahrt in die Stadt erreiche ich das Westterminal direkt neben dem Azadi-Turm, einem der wichtigsten Zentren Teherans. Ich laufe in Richtung des Turms, der von denjenigen, die aus den Nachbarstädten in die Hauptstadt kommen, als erstes aufgesucht wird, um zu verschnaufen und sich auszuruhen. In dem Park, in dem sich der Turm befindet, laufen die Vorbereitungen für die Fußballweltmeisterschaft in Katar. Auch wurden hier Skulpturen, die den WM-Pokal darstellen sollen, aufgestellt. Ein paar junge Leute aus Chuzestan, einer der ärmsten Provinzen des Landes, versuchen, sich trotz der Kälte im Gras auszuruhen. Nachdem ich hier ein paar Fotos schieße, mache ich mich zu Fuß auf den Weg durch die Hauptstadt: Die Straßen sind überfüllt und die Menschen haben es eilig, zur Arbeit zu kommen.


Die Sittenpolizei hat ihre Autorität verloren

Ich gehe durch die Seiten- und Hauptstraßen und sehe, dass die Zahl der Frauen, die mit unbedecktem Haar herumlaufen, um sich der Gascht-e Erschad [Sittenpolizei] zu widersetzen, im Vergleich zu meinen früheren Besuchen deutlich zugenommen hat. Ob das Regime es nun erklärt oder nicht, die Straßen und Alleen von Teheran zeigen, genau wie ich es in Rojhilat gesehen habe, dass die Sittenpolizei an Autorität verloren hat.


Tod dem Diktator“ und blutige Hände

Ich würde gerne den Nahj-al-Balagha-Park besuchen, der in einem Tal zwischen großen Highways liegt. Dieser große Park, den die Bewohner:innen zum Ausruhen und Picknicken besuchen, wird von Schüler:innen genutzt, die in der Mittagspause die Schule verlassen. An vielen Stellen singen Jungen und Mädchen Lieder und lachen. Die jungen Leute, die ihre am Kiosk gekauften Speisen und Getränke gemeinsam verzehren, achten auf niemanden. Bei einem Spaziergang durch den Park fallen an fast jeder Mauer die Parolen „Diktator Chamenei“, „Mahsa (Jina) Amini“, „Zan, Zendegi, Azadi“ (Jin Jiyan Azadî) auf. Viele hat man versucht zu übermalen, aber das sauber geschriebene „Tod dem Diktator“ direkt daneben zeigt, dass die jungen Leute nicht aufhören, ihre Slogans an die Wände zu bringen.

Blutige Hände

Beim Weg zurück ins Stadtzentrum finden sich am Fuß des Parks und auf den Treppen fast aller Überführungen und an den Wänden diverse Schilder mit der „blutigen Hand“ und Graffiti, die auf die Morde durch die Regimekräfte hinweisen.


Beim Warten an einer Bushaltestelle fällt das mit roter Kreide geschriebene Schild „Marg bar Chamenei“ (Nieder mit Chamenei) - dem „Henker von Evin“ auf. Das für Folterungen berüchtigte Gefängnis ist die größte Haftanstalt für politische Gefangene in Iran. Einige Abteilungen werden von Einrichtungen betrieben, die nicht der Kontrolle der Regime-Justiz unterliegen. Es heißt, dass die Abteilungen 209 und 240 in Evin unter der Herrschaft des Geheimdienstministeriums und der Revolutionsgarden stehen und Verhöre sowie Folterungen geheim gehalten werden, so dass sie fast wie ein inoffizielles Gefangenenlager wirken. Mitte Oktober stand das Evin-Gefängnis in den internationalen Schlagzeilen, als bekannt wurde, dass bei einem Brand mindestens vier Häftlinge ums Leben kamen und mehr als 60 verletzt wurden.


Medieneinrichtungen als „Mörder“ von Polizisten

Als ich weiter durch die Stadt gehe, stehen vor fast jedem Regierungsgebäude motorisierte Polizeieinheiten bereit. In Teheran, wo die Proteste vor allem an den Universitäten - und nachts in den Nachbarschaften - stattfinden, haben regimetreue Leute eigene  Transparente auf Plakatwänden angebracht, um ihre Unterstützung für den herrschenden Klerus auszudrücken und zu behaupten, ausländische Mächte würden das Land aufhetzen. Das Volk müsse sich dagegen stellen. An einigen Stellen, vor allem an Mauern und Fernmeldetafeln auf den Bürgersteigen, sind die Namen einiger internationaler Medienorganisationen zu lesen. Sie werden als „Mörder“ der Polizisten bezeichnet, die bei Protesten getötet wurden.


Regime führt Propagandakrieg

In der Zeit, in der ich in Iran war, haben sich alle offiziellen Fernsehsender auf Sondersendungen konzentriert, in denen behauptet wurde, der Volksaufstand sei von „ausländischen Mächten“ organisiert worden. Auch flimmerten tagtäglich Propagandafilme gegen „Zan, Zendegi, Azadi“ über die Bildschirme, in denen männliche wie weibliche Funktionäre des Klerus „Aufklärung“ über die „Nachteile“ dieser Parole betreiben. Dokumentationen über die Geschichten von Polizisten und Soldaten, die in früheren Jahren auf verschiedene Weise ihr Leben verloren haben, gab es ebenfalls ständig zu sehen. Ich fragte einen Einwohner, was es damit auf sich hat. Er sagte, dass es solche Filme und Sendungen schon früher gab, aber nach Ausbruch des Volksaufstands habe das Regime einen Schwerpunkt auf dieses Thema gelegt. Menschenrechtsorganisationen innerhalb und außerhalb des Landes, in Europa, Saudi-Arabien und den USA sowie in der Diaspora lebende Künstler:innen, Politiker:innen und Aktivist:innen werden in der regimetreuen Presse sowie in Staatsmedien öffentlich kriminalisiert und als „Feinde“ an den Pranger gestellt.


Menschen beschaffen sich Informationen aus alternativen Quellen

Die Medien ignorieren die Ermordung von Kindern, Frauen und Jugendlichen und bezeichnen den Protest der Ladenbesitzer, die ihre Geschäfte schließen, als „Mobbing“, Demonstrationen der Jugend sei „Vandalismus“. Die von mir befragten Quellen erklärten, dass solche schwarze Propaganda und wahrnehmungsorientierte Berichterstattung in der Öffentlichkeit nicht mehr die gleiche Resonanz finden wie früher. Viele Menschen würden alternative Quellen und vor allem Telegram-Kanäle verfolgen, um Netzsperren zu umgehen.

Von der Revolution zu Azadi...

In jeder iranischen Stadt gibt es Revolutions- und Azadi-Plätze. Diese beiden Namen wurden auch wichtigen Orten in Teheran gegeben. Es gibt eine bemerkenswerte Entschlossenheit für diese Namen unter Iraner:innen und Kurd:innen. Als ich dem Freund, der mich auf meiner Reise begleitete, erzählte, dass dieser Umstand meine besondere Aufmerksamkeit erregt hat, sagte er: „Du hast völlig recht. Überall gibt es Plätze, die diese Namen tragen. Deshalb sagen wir: Vor 43 Jahren machten die Völker eine Revolution. Aber nach 43 Jahren haben wir immer noch nicht Azadi (Freiheit) erreicht. Die Straßen vom Revolutionsplatz zum Azadi-Platz sind ständig gesperrt.“


Auf dem kurzen, aber beschwerlichen Weg vom Platz der Revolution zum Azadi-Platz wurden in Iran in den letzten 43 Jahren Tausende von Menschen getötet, hingerichtet oder ins Exil getrieben. Nach der Ermordung von Jina Amini ging das Volk auf die Straße und leistete Widerstand, und dieses Mal ist es entschlossen, den Weg nach Azadi zu öffnen.


Abdurrahman Gök ist Fotoreporter und auch international für seine journalistische Arbeit bekannt, unter anderem für seiner Bilder der im August 2014 vor dem Genozid des selbsternannten IS ins Şengal-Gebirge geflohenen ezidischen Bevölkerung. Außerdem erfuhr die Öffentlichkeit nur dank seines Einsatzes, dass es sich beim Tod des jungen Kunststudenten Kemal Kurkut, der im März 2017 am Rande der Newroz-Feierlichkeiten in Amed von einem Polizisten erschossen worden war, in Wahrheit um vorsätzlichen Mord handelte. Gök hatte acht Mal auf den Auslöser seiner Kamera gedrückt und dokumentiert, dass die offizielle Version, wonach Kurkut ein „Selbstmordattentäter“ gewesen sei, von der Polizei nur erfunden wurde.

Im Original erschien der achte Teil der Reportage über die Reise in den Iran am 2. Dezember. Die deutschsprachigen Übersetzungen der ersten sieben Teile sind unter nachfolgenden Links zu lesen: