Gurgum – Geschichte einer nordkurdischen Region I

Die Region Gurgum, auch bekannt als Mereş, gehört zu den westlichsten Gebieten Nordkurdistans. Die Stadt und gleichnamige Provinz waren stets im besonderen Fokus der Assimilationspolitik. Ihr historisches Gedächtnis soll ausgelöscht werden.

Die nordkurdische Provinz Gurgum (tr. Maraş) liegt in Trümmern. Das Erdbeben vom 6. Februar hat in der kurdisch-alevitisch geprägten Region besonders heftig gewütet. Es war bei weitem nicht das erste Trauma, das Gurgum durchlebte. In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Region immer wieder zum Ziel von Massakern, wie dem berüchtigten Pogrom von 1978, bei dem türkische Faschisten hunderte alevitische Frauen, Männer und Kinder ermordeten. Seitdem wurde Gurgum mit einer kontinuierlichen Politik der Zerstörung und Vertreibung überzogen. Zu dieser Politik gehört auch die Auslöschung des historischen Gedächtnisses der multikulturellen Region, in der sich unzählige ethnische und religiöse Identitäten manifestiert haben, von den Hethitern über die Luvier, die Meder, die Assyrer, die Hurriter, die Gutäer bis hin zur uralten Weltanschauung des Alevismus sowie der Islam, das Christentum, der Zoroastrismus, das Ezidentum und das Judentum. Die verschiedenen Identitäten lebten in Gurgum friedlich zusammen, bis unter türkisch-islamischer Herrschaft begonnen wurde, die Demografie der im Westen des Euphrat gelegenen kurdischen Provinz durch Vertreibung zu verändern. Nach den massiven Zerstörungen durch die jüngsten Erdbeben besteht auch jetzt wieder die Gefahr, dass der Staat den Anlass nutzt, um seine Politik der Vernichtung kurdischer Identität fortzusetzen. Die Menschen in Gurgum sind doppelt bedroht: Als Kurd:innen von der Türkisierung und als Alevit:innen von der sunnitischen Islamisierung.

Die Frühzeit von Gurgum

Der Beginn der Siedlungsgeschichte von Gurgum liegt im Dunkel der Geschichte. Der Name stammt aus dem Hethitischen und bezieht sich wohl auf die Region. Älteste Quellen berichten von einer Besiedlung Gurgums um die Kreisstadt Afşîn im 3. Jahrtausend v.u.Z. Die hethitische Besiedlung der Region datiert mindestens auf das Jahr 1700 v.u.Z. zurück.  Der Legende nach soll damals ein hethitische Kommandant namens Maqasi die Siedlung Marqas – das spätere Mereş – gegründet haben. Das Hethiterreich war ein Großreich, dessen Ausdehnung von der Westküste der heutigen Türkei bis weit nach Syrien reichte. Mit dem Einfall der Achaier im Westen des Hethiterreichs, möglicherweise dem historischen Kern von Homers Illias, der Beschreibung des Kriegs um Troja, brach das Hethiterreich zusammen und ein Chaosintervall begann. Aramäische Fürstentümer entstanden und verschwanden. Etwa im 10. Jahrhundert v.u.Z. wurde das neohethitische Königreich Gurgum errichtet. Die Herrschaft des von den Luwiern als Kurkuma bezeichneten Kleinkönigreichs dauerte etwa bis ins 7. Jahrhundert fort. Im Jahr 721 v.u.Z. zerstörten die Neoassyrer Gurgum zunächst, bis sie die Region zehn Jahre später eroberten und zum Teil ihres Imperiums machten, das bis in den Sudan reichen sollte. Die folgende Geschichte war von der Präsenz der Luwier, Hethiter und vor allem der als Vorfahren der Kurd:innen betrachteten Hurriter geprägt. Auch die Gutäer, Armenier, Aramäer und Urartäer prägten die Region.

Neohethitische Löwenstele, ausgestellt im Archäologischen Museum Kahramanmaraş, mit der Erwähnung des Namens des Königreichs Gurgum) | Bild: Klaus-Peter Simon | Creative Commons BY-NC-SA 3.0


Unter medischer Herrschaft

Zwischen 650 und 550 v.u.Z. fiel die Region unter die Kontrolle des medischen Imperiums. Das medische Imperium wird historisch immer wieder auch als kurdische Stammeskonföderation betrachtet. Ähnlichkeiten in der Sprache deuten auf eine Verwandtschaft hin. Allerdings ist der medische Textkorpus sehr gering, daher sind abschließende Aussagen dazu schwierig. 550 v.u.Z. wurde das Mederreich von den Persern zerschlagen – Gurgum fiel unter persische Herrschaft. Die Perser mit ihrer zorastristischen Staatsreligion beeinflussten die Region tiefgreifend.

Siegesstele des Asarhaddon aus Samal, auf der der neoassyrische Herrscher seinen Sieg über Aramäer und Ägypter feiert. Ausgestellt im Pergamonmuseum Berlin | Bild: Richard Mortel | Creative Commons CC-BY-NC 2.0


Der Hellenismus

Im Jahr 333 v.u.Z. fiel der makedonische König Alexander in der Region ein und errichtete sein hellenistisches Großreich, das bis nach Indien reichen sollte und auch Ägypten umfasste. Dadurch wurde Gurgum auch stark griechisch beeinflusst. Mit dem Tod von Alexander dem Großen 323 v.u.Z. zerfiel dessen Reich in Diadochenstaaten. Die Region wurde von Seleukos, Feldherr unter Alexander, beherrscht und wurde Teil des von ihm selbst gegründeten Seleukidenreiches. Während die Seleukiden eine Toleranzpolitik gegenüber den regionalen Kulturen lebten, nahm der griechische Einfluss auf die Region zu.

Gurgum als Teil des Imperium Romanum

Im Jahr 40 u.Z. wurde Gurgum unter dem römischen Kaiser Caligula zum Teil des Imperiums Romanum. Marqasi wurde in Caesarea Germanicia umbenannt. In diesen Zeiten rollten immer wieder Wellen von Christenverfolgungen unterschiedlicher Intensität über die Region. In Gurgum entwickelten sich viele Untergrundkirchen. Das Christentum beeinflusste die Region stark. Insbesondere die Kreisstadt Afşîn sah sich tief mit der christlichen Tradition verbunden. Die christliche Legende verbindet Afşîn mit dem christlich/islamischen Heiligenmythos der „Sieben Schläfer“. Demnach flohen sieben Gläubige vor religiöser Verfolgung in eine Höhle und wurden von ihrem Gott in einen jahrhundertelangen Schlaf versetzt. Im Koran wird die Legende unter dem Namen Aṣḥāb al-Kahf erzählt. Mehrere Orte nehmen neben Afşîn in Anspruch, Austragungsort der Legende gewesen zu sein. Die Höhle und die darüber errichtete Zitadelle stellen heute in Afşîn ein wichtiges historisches Monument dar. 

Im Griechischen wurde Afşîn als Arabissos bekannt. Im Jahr 539 u.Z. wurde der oströmische Kaiser Maurikios in Arabissos geboren. | Foto: https://kahramanmarassehirrehberi.com/


Gurgum – ein Mosaik der Religionen und Völker

Eine weitere wichtige Verbindung zum Christentum stellt die Geburt von Nestorius im Jahr 381 in Gurgum dar. Der byzantinische Theologe wurde zum streitbaren Patriarchen von Konstantinopel, der im christologischen Streit um die Natur Christi 431 zum Häretiker erklärt und 435 exkommuniziert wurde. Er musste ins Exil nach Luxor gehen und starb dort im Jahr 451. Er vertrat die Lehre, in Jesus Christus existierten zwei Naturen, eine göttliche und eine menschliche. Damit legte er den Grundstein für die insbesondere in Syrien noch vorhandene nestorianische Tradition des Christentums. Auf dem Gebiet des heutigen türkischen Staates wurden die letzten Nestorianer 1915 im Rahmen der jungtürkischen Genozidpolitik in der nordkurdischen Provinz Colemêrg (Hakkari) ausgelöscht. Heute leben die meisten Nestorianer - insgesamt etwa 175.000 - im Irak/Südkurdistan, in Syrien/Rojava und im Iran/Rojhilat. In der Regel treten sie als Angehörige der Assyrischen Kirche des Ostens auf. In Europa und Nordamerika leben etwa 125.000 Nestorianer.

Nicht nur christliche Konfessionen, sondern auch der gnostische Manichäismus breiteten sich ab 216 in Gurgum aus. Der Manichäismus war eine synkretistische Mischform von Religionen, die einen stark dualistischen Charakter hatte und eine Synthese aus Zoroastrismus, Christentum und Buddhismus darstellte. Gleichzeitig verbreiteten sich auch die dem Nestorianismus ähnlichen Lehren des zum Häretiker erklärten Priesters Paulus von Samosata.

Ethnisch wie religiös stellte die Region Gurgum ein Mosaik aus Kurden, Römern, Armeniern, Urartäern, Persern und vielen anderen Identitäten dar. Die alten Glaubensrichtungen in der Region vermischten sich, beeinflussten sich und brachten immer neue Entwicklungen jenseits des Dogmas mit sich. 638 eroberten die islamischen Heere Gurgum und zu den vielen anderen Identitäten kam nun auch die islamisch-arabische. Gurgum wurde während der arabisch-byzantinisch-armenischen Kämpfe mehrfach zerstört, da die Region eine Ausgangsbasis für die arabische Expansion nach Westen darstellte. Im 7. Jahrhundert wurde die Stadt durch den Umayyaden-Kalifen Muʿāwiya I. ausgebaut und um 800 durch den Abbasiden-Kalifen Hārūn ar-Raschīd erweitert. Gegen Ende der Herrschaft der extrem konservativen abbasidischen Dynastie bildeten sich die Hamdiniden heraus, welche Gurgum ab 950 beherrschten. Um die Wende des Jahres 1000 lebten Christen, Aleviten, Muslime, Assyrer, Juden, Eziden, Manichäer, Zoroastrier und Angehörige anderer alter Glaubensrichtungen und Kulturen in und um Gurgum zusammen. Hinzu kam auch eine starke armenische Bevölkerung.

Gurgum unter armenischer Herrschaft

Ab 1071 herrschte in Gurgum ein armenisches Fürstentum. Es wurde zum Regierungszentrum des armenischen Herrschers Philaretos Brachamios, der sich nach der Schlacht bei Manzikert um 1071 im Südosten des byzantinischen Reiches eine eigene Machtbasis schuf. Bei der Schlacht von Manzikert (das heutige Kelê, tr. Malazgirt) siegten die Seldschuken entscheidend über die Byzantiner. Zu Brachamios Gebiet gehörten auch Antiochia (tr. Antakya) und Edessa (bzw. Riha, tr. Urfa). Nach dem Tod von Philaretos übernahm sein Offizier Tatul die Herrschaft in Gurgum und wurde von Kaiser Alexios I. anerkannt. Die armenische Herrschaft dauerte nur etwa 30 Jahre, dennoch wurde dadurch die armenische und christliche Identität in der Region deutlich gestärkt.

Türkische Besetzung der Region

1097 wurde Gurgum von den Kreuzfahrern besetzt und ins Königreich von Antiochia eingegliedert. 1114 zerstörte ein Erdbeben mit Zehntausenden vom Toten nahezu die gesamte Region. Im Konflikt mit Byzanz sahen die armenischen Fürsten in den türkischen Zengiden unter Nur ad-Din einen Verbündeten. Ab 1150 etwa fiel Gurgum an Nur ad-Din, der im Austausch gegen einen hochrangigen byzantinischen Gefangenen die Region dem armenischen Füsten Mleh von Kleinarmenien 1171 übergab. Dieses Reich wurde im 14. Jahrhundert von den ägyptischen Mamluken zerschlagen. Bereits zuvor wechselte die Herrschaft immer wieder. Zwischen 1160 und 1200 wurde Gurgum von den ägyptischen Ayyubiden beherrscht. Dieser Einfluss war entscheidend für die Zusammensetzung der Bevölkerung. Insbesondere die kurdisch-alevitische Bevölkerung wurde massiv unterdrückt. Stattdessen wurden auch turkmenische Aleviten in der Region angesiedelt. So entstand ein Gebiet, in dem viele kurdische und türkische Aleviten zusammenlebten. Auch wenn im Jahr 1240 noch viele verschiedene Identitäten in Gurgum präsent waren, waren der Alevismus und das Judentum am stärksten verbreitet. Der Islam hatte noch keine Hegemonie. Es existiert keine Moschee aus dieser Zeit. Es scheint, dass diejenigen, die sich in Gurgum niederließen oder zum Islam konvertierten, nicht auf der Anwendung der Regeln des Islam bestanden, d. h. der Islam dieser Gruppen war oberflächlich.

Alevitischer Aufstand für Gleichberechtigung der Geschlechter und Kollektivbesitz

1239 erhoben sich die Aleviten in Semsûr (Adiyaman) und Gurgum im Babai-Aufstand gegen die Unterdrückung durch die Seldschuken. Der Aufstand war insbesondere aufgrund der alevitischen Bevölkerungsstruktur in Gurgum sehr erfolgreich und konnte vom seldschukischen Großreich nur unter größter Mühe niedergeschlagen werden. Die Rebellion ging von der Überzeugung aus, dass die Liebe zu Gott nicht durch strenge Regeln und Gebote, sondern durch die Liebe eines Menschen erreicht werden konnte. Sie richtete sich gegen die Trennung von Mann und Frau und trat für die Gleichheit aller Menschen ein. Gleichzeitig vertraten die Aufständischen das Konzept von Kollektivbesitz gegen Privateigentum. Wie hieraus deutlich wird, waren weder die Muslime noch die türkischen Identitäten in dieser Zeit die dominierende Kraft in Gurgum.

Die Herrschaft der Mamluken

Im 14. Jahrhundert besetzten die Mamluken die Region. Auch wenn in der Periode der Herrschaft der Mamluken der Islam etwas gestärkt wurde, blieb der alevitische Einfluss in der Region bestehen. Auch die christliche Gemeinde hatte weiterhin große Bedeutung. Im Jahr 1330 wurde Dulkadiroğlu Karaca als Fürst von Gurgum eingesetzt. Während dieser Zeit wurde Gurgum stärker islamisiert und türkisiert. Dennoch war eine Vorherrschaft des Islams aufgrund der alevitischen, christlichen und jüdischen Bevölkerungsmehrheit nicht durchsetzbar. Die starke armenische und kurdische Identität verhinderte ebenfalls eine türkische Dominanz.