Der Kampf um Demokratie in der Türkei ist nicht vorbei

Die Türkei hat in ihrer hundertjährigen Geschichte alle Arten von Herrschaft erlebt: vom Kemalismus über Islamismus und Militärdiktatur bis hin zu Erdoğans Autoritarismus. Das Einzige, was noch nicht versucht wurde, ist eine konsequente Demokratie.

Die Menschen auf der ganzen Welt wachen mit der Nachricht auf, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit ziemlicher Sicherheit weitere fünf Jahre an der Macht bleiben wird. In der ersten Wahlrunde am Sonntag erhielt Erdoğan 49,5 Prozent der Stimmen, während sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu 44,9 Prozent erzielte. Für den 28. Mai wurden Stichwahlen angekündigt.

Die düstere Situation erinnert uns an die schwachen demokratischen Normen der Türkei und das Ausmaß nationalistischer, rassistischer und rechtsextremer Stimmungen. Ein Hoffnungsschimmer kommt von der seit langem bedrängten Demokratischen Partei der Völker (HDP), deren unnachgiebiger Kampf für fortschrittliche, demokratische Werte erneut ihre Widerstandsfähigkeit bewiesen hat.

Die HDP und die ihr nahestehende Grüne Linkspartei (YSP) traten zu den Wahlen unter äußerst widrigen Bedingungen an, da ein autokratisches Regime alle staatlichen Institutionen und die Presse kontrolliert. Diese Schwierigkeiten wurden in einer gemeinsamen Erklärung von Wahlbeobachter:innen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarats gut veranschaulicht. Darin heißt es, dass die Wahlen am 14. Mai zwar „gut organisiert" und größtenteils friedlich verlaufen seien, die Wählerinnen und Wähler jedoch durch die Kriminalisierung und Inhaftierung von HDP-Mitgliedern in ihrer politischen Wahlfreiheit eingeschränkt seien.

In der Erklärung wurde auch auf die von Erdoğan verhängten Barrieren hingewiesen, die die Opposition massiv einschränkten. Die OSZE schreibt: „Die seit langem bestehenden Bedenken hinsichtlich der Wahrung der Grundfreiheiten Versammlungs-, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit sowie der Unabhängigkeit der Justiz, die alle für einen demokratischen Prozess von zentraler Bedeutung sind, wurden in der Wahlperiode nicht ausgeräumt."

Erdoğans regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die alle staatlichen Institutionen kontrolliert, hat kalkulierte Strategien angewandt, um vor allem die HDP aus dem Wahlkampf auszuschließen. Infolge des laufenden Verfahrens zum Verbot der Partei trat die HDP nicht als eigenständige Partei an, sondern musste über die Grüne Linkspartei antreten. Sie tat dies, um der drohenden Gefahr einer Schließung durch ein politisch motiviertes Gerichtsverfahren zu entgehen - ein Schicksal, das bereits acht ihrer Vorgängerparteien ereilt hat.

Die Parteiorganisation der HDP war bereits durch die systematische Repression geschwächt, die seit 2016 ununterbrochen anhält und bei der mehr als fünfzehntausend Führungskräfte und Mitglieder verhaftet wurden. Derzeit befinden sich mehr als viertausend Mitglieder dieser Partei im Gefängnis. Die Grüne Linkspartei wurde erst sehr spät zu den Wahlen zugelassen, nämlich erst, als der Wahltermin bereits bekannt gegeben worden war. All dies war Teil von Erdoğans ausgeklügelten Bemühungen, uns eine faire Teilnahme am politischen Prozess zu verwehren.

Als politische Struktur, der praktisch alle Ressourcen vorenthalten wurden, trat die Grüne Linkspartei somit unter ungleichen Bedingungen zu den Wahlen an. Die Wähler:innen des linken Flügels konnten zwischen zwei Optionen wählen - der Partei der Grünen Linken oder der mit ihr verbündeten Arbeiterpartei der Türkei (TIP), die ebenfalls dem Bündnis für Arbeit und Freiheit angehört. Dennoch zeigen die Ergebnisse, dass die HDP und der sie umgebende Block die Position, die sie bei der Wahl 2018 erobert hatten, halten konnten.

Die HDP hat über die Grüne Linke erneut ihre Position als drittstärkste Kraft sowohl im Parlament als auch in der Gesellschaft behauptet. Millionen Bürgerinnen und Bürger in der Türkei haben uns ihr Vertrauen geschenkt, den Kampf gegen Autokratie und Unterdrückung fortzusetzen und eine demokratische und friedliche Lösung für die Probleme der Türkei zu fordern. Diese Arbeit gilt es nun fortzusetzen.

Systematische Offensive

Wären die politischen Verhältnisse in der Türkei frei und fair, hätte sich die HDP mit der Unterstützung von mehr als viertausend inhaftierten Funktionären, ehemaligen Vorsitzenden, Abgeordneten, Ko-Bürgermeister:innen und Mitgliedern beteiligt. Sie wären nicht von den Medien in der Türkei ausgeschlossen worden und hätten ihre Ideen unter gleichen Bedingungen in der Gesellschaft verbreiten können. Dies hätte zu einem ganz anderen Ergebnis führen können, und zwar zu einem albtraumhaften Szenario für Erdoğan.

Die Präsidentschaftswahlen selbst fanden unter bemerkenswerten Bedingungen statt. Der Oppositionskandidat Kılıçdaroğlu von der Republikanischen Volkspartei (CHP), der von allen Medien und staatlichen Plattformen ausgeschlossen war, wurde von der HDP und ihrem Block unterstützt. Mit dieser Hilfe gelang es Kılıçdaroğlu zumindest, eine Stichwahl gegen Erdoğan zu erzwingen. In diesem Sinne hat der Mythos der Unbesiegbarkeit des Präsidenten wirklich einen Schlag erlitten. Es ist sein schlechtestes Ergebnis bei einer Wahl.

Nun können wir hoffen, dass das Volk der Türkei trotz des Ausmaßes, in dem die Wähler:innen durch nationalistische und religiöse Rhetorik manipuliert wurden, im zweiten Wahlgang nicht erneut einen Mann wählen wird, der seinem Land so viel Schaden zugefügt hat. Sollte er tatsächlich ins Präsidentenamt zurückkehren, würde das Volk sich selbst noch mehr bestrafen und eine noch weniger demokratische Zukunft garantieren.

Die Türkei hat in ihrer hundertjährigen Geschichte alle Arten von Herrschaft erlebt: vom säkular-nationalistischen Kemalismus der oppositionellen CHP über Islamismus, Putsche und Militärdiktatur bis hin zu Erdoğans besonderer Form eines zunehmend islamistischen und nationalistischen Autoritarismus. Das Einzige, was noch nicht versucht wurde, ist eine konsequente Demokratie.

Jetzt und in den kommenden Jahren muss die Türkei ihre Ängste überwinden und sich trauen, demokratisch zu sein. Die wichtigsten Inspirationsquellen in dieser Hinsicht sind die HDP und die Grüne Linkspartei sowie der breitere politische Ansatz der kurdischen Freiheitsbewegung. Trotz des Machtkampfes zwischen Erdoğans islamistisch-nationalistischem Block und dem säkular-nationalistischen Block, der ihm gegenübersteht, bleiben wir die wichtigste Kraft, die für Demokratie und eine echte Alternative in der Türkei kämpft. Dies bedeutet eine Alternative, in der Frauen, verschiedene Völker und religiöse Gruppen sowie alle Bürgerinnen und Bürger in Frieden zusammenleben können. Die vorläufigen Ergebnisse zeigen, dass unter den dreiundsechzig Abgeordneten der Grünen Linken einunddreißig Frauen sind, die ins Parlament gewählt wurden.

Hätte der autoritäre, nationalistische und patriarchalische Erdoğan das letzte Jahrzehnt nicht damit verbracht, die fortschrittliche Opposition systematisch zu liquidieren, sähe die Situation heute ganz anders aus. Doch das endgültige Ergebnis wird sich erst im zweiten Wahlgang am 28. Mai entscheiden. Noch ist nichts entschieden.

Foto: Wahlkampfveranstaltung der YSP am 13. Mai 2023 in Istanbul. Das Transparent mit der Aufschrift „Çizgimiz 3. Yol" (dt. Unsere Linie ist der 3. Weg) symbolisiert den Weg über den islamischen und türkischen Nationalismus hinaus zu einer freien, demokratischen Türkei

Devriş Çimen ist Europavertreter der HDP. Der Artikel erschien zuerst am 15. Mai 2023 auf Englisch in der Zeitschrift Jacobin.