Der Afghanistan-Krieg und die (un)heimliche Macht des MIK

Das Fiasko in Afghanistan hat mit aller Deutlichkeit gezeigt, wohin es führt, wenn der MIK ungehindert 20 Jahre lang Krieg führen kann. Letztlich macht sich eine Gesellschaft, die in Gleichgültigkeit verharrt, mitschuldig an den Kriegen ihrer Regierung.

Für das Fiasko in Afghanistan werden im Allgemeinen die politische Führung der USA und ihre Nato-Verbündeten verantwortlich gemacht. Dies trifft insofern zu, weil die US-Regierung den Militäreinsatz beschlossen hatte. Dass andere Nato-Staaten sich dieser Entscheidung nicht widersetzten und sich am Krieg beteiligten zeigt, wie sehr die USA die Nato-Politik bestimmen. Im Unterschied zu Vietnam bedeutet Afghanistan eine schwere Niederlage für das von den USA angeführte mächtigste Militärbündnis der Welt. Wie bereits nach der Niederlage in Vietnam, wird auch jetzt keine Kritik an der Unfähigkeit der Militärs geübt. Dabei wurde der „operative Krieg“ von ihnen geführt und verloren. Sie kommandierten eine mit modernsten Waffen ausgerüstete Armee, die zudem von afghanischen Soldaten, die über Jahre von den westlichen Truppen ausgebildet und ausgerüstet wurden, unterstützt wurden. Während teilweise harte Kritik an der Politik beziehungsweise der politischen Führung geäußert wird, ist Kritik an den Militärs tabu. Dass heute Militärs, die einen Krieg verloren haben, als „Helden“ gefeiert werden und Regierungspolitiker, die sonst sehr ungern eigene Fehler zugeben, bereitwillig die Verantwortung für das Fiasko auf sich nehmen, sollte misstrauisch machen.

Seit 2011 betrugen die Militärausgaben der USA und der übrigen Nato-Staaten jährlich im Durchschnitt rund 1000 Milliarden US-Dollar.[1] Afghanistan war nicht nur für die Rüstungsindustrie ein Eldorado, sondern auch für die Firmen, die für die Versorgung der Truppen zuständig waren. Das war eine kostspielige Sache, denn aufgrund der schlechten Infrastruktur des Binnenlandes und der Sicherheitslage erfolgte der Nachschub über den Luftweg. Der Krieg in Afghanistan war wie eine Geldmaschine für den militärisch-industriellen Komplex (kurz MIK, Zweckgemeinschaft von Rüstungsindustrie, Militär und Teilen des politischen Apparats) und zahlreiche, mit ihm verbundene Unternehmen. Für die zynisch als Kollateralschaden bezeichneten Opfer der Zivilbevölkerung hat sich die „Öffentlichkeit“ der „demokratischen Welt“ nie besonders interessiert. Nur die letzten 20 Tage der 20 Jahre werden in Erinnerung bleiben: durch den überstürzten Abzug der Nato-Truppen, die Evakuierung der „Ortskräfte“ und die Bombenanschläge auf die am Flughafen zusammengedrängten Menschen. In diesen letzten Tagen bekamen die Militärs eine Chance, sich der Öffentlichkeit als „Retter“ von Afghanistan zu präsentieren und ihre Kriegsniederlage zu kaschieren. Es scheint, als ob sie 20 Jahre lediglich dort waren, um medienwirksam eine spektakuläre Evakuierung abzuwickeln.

Die Kriegsprofiteure

Auf die Frage, was die „Ursache des Scheiterns und der tiefere Grund für die Sinnlosigkeit des ganzen Krieges“ gewesen sei, gibt Sahra Wagenknecht folgende Antwort: „Es ging und geht gar nicht um Demokratie und Menschenrechte, es geht um Interessen, eigene oder auch die von vermeintlichen Bündnispartnern. Es geht um Rohstoffe und geostrategische Einflusssphären.“[2] Dass es den USA und ihren Verbündeten nicht um Demokratie und Menschenrechte ging, trifft sicherlich zu. Aber ging es in Afghanistan auch um Rohstoffe oder die „geostrategische“ Interessen? Wenn es so wäre, stellt sich die Frage: Waren die USA und Verbündete wie Deutschland, Großbritannien oder Frankreich so dumm und unfähig, die Reichtümer Afghanistans unter ihre Kontrolle zu bringen und davon zu profitieren? Waren sie zudem auch noch unfähig, mit ihrer gigantischen, hochmodernen Kriegsmaschinerie ihren „geostrategischen Einfluss“ zu verteidigen?

Der 20-jährige Krieg soll 3200 Milliarden gekostet haben.[3] Die erste Frage, die sich stellt ist doch: Wer hat von diesem Krieg profitiert? In wessen Tasche floss das Geld? Von der wohl teuersten Kriegsniederlage der Geschichte profitierten alle, die unmittelbar oder mittelbar Teil des MIK sind und den Krieg 20 Jahre am Laufen hielten. Ihre Rolle wird selbst in linken Kreisen kaum thematisiert. Dabei hat kein geringerer als Dwight D. Eisenhower, der während des Zweiten Weltkriegs Oberkommandierender der alliierten Streitkräfte in Europa und später von 1953 bis 1961 US-Präsident war, in seiner letzten Rede in diesem Amt sehr klar auf den Aufstieg und den wachsenden Einfluss des MIK auf Regierung und staatliche Institutionen hingewiesen. Keiner konnte die nach dem Zweiten Weltkrieg beginnende bedrohliche Entwicklung besser beurteilen als er.[4] Die deutliche Warnung des Weltkriegsgenerals und republikanischen Präsidenten hat sich als berechtigt erwiesen, aber trotzdem wurde die Rolle des MIK bei den zahlreichen Kriegen der USA nach 1945 bis heute kaum kritisch hinterfragt. Der demokratische Senator Bernie Sanders ist bislang der einzige prominente US-Politiker, der Kritik übte.[5]

Kriege werden nicht mehr geführt, um Kontrolle über Rohstoffe oder neue Märkte zu erlangen. Dazu bedarf es keiner Kriege wie im Irak, Libyen oder Afghanistan. Saddam und Gaddafi waren – genauso wie andere Diktatoren in anderen Teilen der Welt – immer gute Geschäftspartner des Westens. Eine Taliban-Regierung wird die Ausbeutung der Rohstoffe des Landes durch westliche oder chinesische Konzerne akzeptieren, weil sie ohne Geld ein Land mit etwa 38 Millionen Einwohnern nicht regieren könnten. Sie benötigt Geld, um den Staats- und Verwaltungsapparat, die Armee und den Sicherheitsapparat wie Polizei und Geheimdienst zu unterhalten. Die Bevölkerung wird auf vieles, woran sie sich in den vergangenen 20 Jahren gewöhnt hat –  auf Smartphones, Geldautomaten, Waschmaschinen, Kühlschränke, Autos und andere Dinge – nicht verzichten wollen. Letztendlich kann das Land wirtschaftlich nicht von der übrigen Welt abgekoppelt werden. Eine „UN-Geberkonferenz” sagte diese Woche 1,2 Milliarden Dollar (gut eine Milliarde Euro) Hilfsgelder für Afghanistan zu. Deutschland sicherte 100 Millionen Euro an Unterstützung zu.[6] Es ist nur eine Frage der Zeit, bis aus den einstigen „Terroristen“ irgendwann Geschäftspartner werden.

Das Land hat mehr zu bieten als nur Opium: Die Vorräte an Eisenerz, Kupfer, Gold, Erdöl, Marmor und Edelsteinen, aber auch an Lithium, Kobalt und seltenen Erden sollen nach manchen Schätzungen bis zu drei Billionen wert sein.[7] Aufgrund der fehlenden Sicherheit konnten westliche Konzerne sie aber nicht ausbeuten. Nach Abzug der Nato hat vor allem China die besten Aussichten, Einfluss auf die Wirtschaft Afghanistans zu gewinnen. Offenbar hat die neue Regierung in Kabul keine Vorbehalte gegen das von der KP regierte Nachbarland, ganz im Gegenteil: „China ist unser wichtigster Partner und bedeutet für uns eine grundlegende und außergewöhnliche Chance, denn es ist bereit, zu investieren und unser Land neu aufzubauen”, sagte der Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid. Mit der chinesischen Kontrolle über die Bodenschätze Afghanistans würde die Niederlage vor allem für die USA noch schwerer wiegen.

Der Moloch des 21. Jahrhunderts

Es ist für Sahra Wagenknecht „schwer nachvollziehbar, dass keines dieser Desaster zu einem Umdenken der politisch Verantwortlichen geführt hat“. Zu einem Umdenken wird es sicherlich nicht kommen, aber die Nato-Führung hat verstanden, dass sie nach dem Fiasko in Afghanistan in Zukunft keine langen, kostspieligen Krieg führen kann. „Wir müssen Lehren daraus ziehen”, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.[8] Wie diese Lehren aussehen werden, wird die Zukunft zeigen. Angesichts der Erhöhung von Rüstungsausgaben und des Ausbaus des Sicherheits- und Überwachungsapparats wird der Einfluss des MIK auf die Politik erhalten bleiben.

Von einem Primat der Politik kann inzwischen keine Rede sein, denn seit der denkwürdigen Rede Eisenhowers vor 60 Jahren hat der Einfluss des MIK – nicht nur in den USA – zugenommen und beeinflusst politische Entscheidungen mehr, als die Öffentlichkeit es wahrnimmt. Es spielt keine Rolle, welche Politiker oder Parteien an der Regierung sind, am Einfluss des MIK hat es keinen Einfluss. Dies verdeutlicht die Präsidentschaft von Barack Obama, der als Hoffnungsträger für eine neue US-Politik galt und sogar den Friedensnobelpreis erhielt. Aber während seiner achtjährigen Amtszeit erwies er sich lediglich als geschickter Friedensrhetoriker, der viel ankündigte, aber nichts änderte. Der Krieg in Afghanistan erhielt durch den massiven Einsatz von Kampfdrohnen eine neue Dimension, die Folgen haben wird auf die globale Kriegsführung im 21. Jahrhundert.

Hinzu kommt, dass die Geheimdienste in den vergangenen Jahrzehnten ebenfalls an Bedeutung gewonnen haben und mit dem MIK eng verknüpft sind. Bislang ist nicht erkennbar, dass sich gegen diese bedrohliche Entwicklung ein breiter und entschlossener Widerstand formiert. Dabei sollte längst klar sein, dass eine konsequente Friedenspolitik und die Begrenzung der Macht des MIK und aller „Sicherheitsapparate“ nicht nur eine wichtige moralisch-politische Frage ist. Wie soll die Frage der sozialen Gerechtigkeit und Sicherheit, des Umweltschutzes, des Klimawandels  und des umwelt- und klimagerechten Umbaus der Wirtschaft gelöst werden, wenn gleichzeitig Rüstungsausgaben erhöht, der „Sicherheitsapparat“ noch weiter aufgebläht und weiterhin „Auslandseinsätze“ durchgeführt werden?

Gerade nach den Erfahrungen im Nahen Osten und in Afghanistan hätte seitens der Linken verdeutlicht werden müssen, dass drängende Zukunftsfragen nicht gelöst werden können, wenn die Politik sich nicht vom Diktat des MIK befreit. Statt deutlich den Zusammenhang zwischen der Macht des MIK und den ständig neuen Kriegen zu thematisieren, beschränkt sich linke Kritik vor allem auf Rüstungsexporte. Und nicht mal in dieser Frage haben ihre Proteste etwas bewirken können.

Das Fiasko in Afghanistan hat mit aller Deutlichkeit gezeigt, wohin es führt, wenn der MIK ungehindert 20 Jahre lang einen Krieg führen kann. Letztendlich macht sich eine Gesellschaft, die in Gleichgültigkeit verharrt, mitschuldig an den Kriegen ihrer Regierung. Friedenspolitik kann sich nicht auf einige Aktionen gegen Rüstungsexporte beschränken, während beispielsweise die Frage der Nato ausgeklammert wird, um „regierungsfähig“ zu sein. Der „Sündenfall“ der SPD, die im Ersten Weltkrieg den Kriegskrediten zustimmte, oder die Zustimmung der Grünen – der einstigen Friedenspartei – mit der Kriegseinsätze der Bundeswehr ermöglicht wurden, sollten eine deutliche Warnung sein.


[1] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1001947/umfrage/militaerausgaben-der-nato-staaten/

[2] https://www.focus.de/politik/meinungsmacher/weitergedacht-die-wagenknecht-kolumne-der-krieg-in-afghanistan-war-ein-debakel-und-es-ist-eure-schuld-liebe-bundesregierung_id_16952281.html

[3] https://www.tagesspiegel.de/politik/kriegskosten-3-2-billionen-dollar/4339124.html

[4] https://youtu.be/hT6HU1s2ILA

[5] https://youtu.be/SEGpTu8sVKI

[6] https://www.deutschlandfunk.de/uno-geberkonferenz-zusagen-ueber-1-milliarde-dollar-fuer.2932.de.html?drn:news_id=1301077

[7] https://www.reuters.com/world/asia-pacific/what-are-afghanistans-untapped-minerals-resources-2021-08-19/

[8] https://www.sueddeutsche.de/politik/nato-afghanistan-untersuchung-1.5407548

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