Başaran: Wir lassen keine Schließung der HDP zu

Die stellvertretende HDP-Vorsitzende Ayşe Acar Başaran erklärt: „Wir sind auf alle Eventualitäten vorbereitet, aber wir werden die HDP nicht schließen lassen, egal was passiert. Wir setzen unseren Kampf gegen alle Angriffe fort.“

Die Demokratische Partei der Völker (HDP) stellt ein Modell der Selbstorganisierung dar, das weit über den klassischen staatsfixierten Parteiencharakter hinausgeht. Zu den 2023 bevorstehenden Wahlen sagt die stellvertretende Ko-Vorsitzende der HDP, Ayşe Acar Başaran: „Mit dem dritten Weg meinen wir nicht ein Bündnis gegen zwei Wahlallianzen (die der CHP und die der AKP). Wir versuchen zu vermitteln, dass es noch einen anderen Weg gibt, der auf demokratischen Grundlagen, ökologischen Kriterien und Geschlechterbefreiung basiert. Wir sprechen über ein Projekt, in dem es nicht nur um einen Wahlkampf, sondern um einen permanenten Kampf geht.“


Das HDP-Verbotsverfahren

Der Chefankläger des Obersten Gerichtshofs, Bekir Şahin, fordert die dauerhafte Auflösung der HDP mit der Begründung, dass sie „darauf abzielt, die unteilbare Integrität des Staates seines Landes und seiner Nation zu stören und zu beseitigen“. Gegen 687 Parteimitglieder einschließlich der Ko-Vorsitzenden Mithat Sancar und Pervin Buldan soll ein politisches Betätigungsverbot verhängt werden. Die Anklageschrift wurde dem Obersten Gerichtshof am 17. März 2021 vorgelegt. Der Verfassungsgerichtshof führte die erste Überprüfung des Falles am 31. März 2021 durch und wies diese zunächst aufgrund von Mängeln an die Generalstaatsanwaltschaft am Obersten Gerichtshof zurück. Eine überarbeitete Version wurde schließlich am 21. Juni 2021 vom Verfassungsgerichtshof angenommen. Mit der Annahme der Anklageschrift und ihrer Übersendung an die HDP begann die zweimonatige Frist für die Vorverteidigung. Die HDP-Rechtskommission beantragte eine zusätzliche Frist von vier Monaten. Am 2. September 2021 entschied der Verfassungsgerichtshof, der HDP 30 weitere Tage zu geben. Am 5. November 2021 reichte die HDP ihre schriftliche Verteidigung beim Verfassungsgerichtshof ein. Am 29. November legte der Generalstaatsanwalt des Kassationsgerichts, Bekir Şahin, dem Gericht sein Gutachten in der Sache vor. Şahin forderte, dass die Anträge in der Vorverteidigung der HDP abgewiesen werden. Die Partei soll dauerhaft geschlossen werden und diejenigen, aufgrund deren Handeln die Schließung erfolgt sei, sollen für fünf Jahre aus der Politik ausgeschlossen werden. Am 20. Januar 2022 übermittelte das Kassationsgericht der HDP die Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft des Obersten Gerichtshof und gab ihr 30 Tage Zeit, um ihre Verteidigung vorzubereiten. Das Gericht lehnte den Antrag der Partei ab, die Verteidigung an die Generalstaatsanwaltschaft zu senden. Auch ein Befangenheitsantrag gegen den Verfassungsrichter Irfan Fidan wurde abgelehnt. Am 19. April 2022 reichte die HDP ihre 220-seitige schriftliche Verteidigung ein. Eine Entscheidung steht noch aus.

Unsere Kampftradition geht weiter“

Die stellvertretende Ko-Vorsitzende der HDP, Ayşe Acar Başaran, spricht im ANF-Interview über die Geschichte und Gegenwart des Kampfes der kurdischen Parteienpolitik.

In den vergangenen 32 Jahren wurden sieben kurdische Parteien verboten. Wie bewerten Sie diese Angriffe auf die kurdische demokratische Politik?

Demokratische Politik in der Türkei zu machen, ist an sich schon eine schwierige Aufgabe. Wer eine politische Linie verfolgt, welche die Bedürfnisse von Frauen, Jugendlichen und der Gesellschaft einschließt, befindet sich ständig im Visier. Obwohl die Regierungen gewechselt haben, wurde Demokratie nie realisiert. In der Türkei herrscht eine politische Atmosphäre, in der es zwar von Zeit zu Zeit kleine Entwicklungen gegeben hatte, die aber durch Staatsstreiche immer wieder begrenzt wurden. Daher wird es sehr schwierig, in der Türkei demokratische Politik zu betreiben. Die Türkei ist das Land, in dem die meisten Parteiverbote der Welt bestehen, in dem die Parteien massivsten Repressionen ausgesetzt sind und in dem Politikerinnen und Politiker verhaftet oder ermordet werden. Die Türkei hat sich ihre Probleme nie eingestanden. Selbst wenn das punktuell geschieht, wird keine Lösung diskutiert. Das Problem ist die seit Jahrhunderte andauernde kurdische Frage. Unsere zuvor geschlossenen Parteien sind ein Indiz dafür, dass die Regierungen nicht in der Lage waren, die kurdische Frage mit demokratischen Mitteln zu lösen. So wie sich die Politik, die kurdische Frage ungelöst zu belassen, nicht geändert hat, hat sich auch unser Kampf nicht verändert. Die Parteien, aus deren Tradition wir kommen, und ihre Entschlossenheit zum Kampf haben sich nicht geändert. Die Frage der kurdischen Existenz und der kurdischen Sprache ist nicht verschwunden und so geht unsere Kampftradition weiter.

Der Kampf der Kurd:innen lässt sich nicht aufhalten“

Wir haben gesehen, dass das Schicksal der Regierungen, welche die kurdische Frage nicht gelöst haben, wenig erbaulich war. Was für ein Ende erwartet die AKP in diesem Zusammenhang?

Frühere Regierungen waren an die Macht gekommen und hatten eine Lösung der kurdischen Frage und ein Ende des Krieges und des Konflikts versprochen, aber sie taten nichts von dem, was sie angekündigt hatten. Denn Krieg und Blut waren zwei wichtige Faktoren, die für sie notwendig waren, um ihre Macht zu erhalten. Wie seine Vorgänger versprach Erdoğan, als er an die Macht kam, die Türkei zu demokratisieren, eine Lösung für die kurdische Frage zu finden und den Krieg zu beenden. Aber wenig später stellte er sich wie die Regierungen vor ihm hin und behauptete, dass es keine kurdische Frage gebe. Die Regierungen, die dieses Problem nicht gelöst haben, haben sich selbst aufgelöst. Alle Regierungen, die die kurdische Frage nicht gelöst haben und mit falschen Methoden vorgegangen sind, sind in Vergessenheit geraten. Formationen wie ANAP, DYP, DP und Refah sind Geschichte. Ihre Namen sind heute vergessen, aber der Kampf der Kurdinnen und Kurden geht weiter. Dieses Volk geht keinen Schritt zurück. Es bleibt bei seinen Forderungen und wird stärker. Es kämpft sogar für die Entwicklung der Demokratie in der Türkei.

Die HDP ist kein Gebäude, das man schließen kann, sondern eine wachsende Idee“

Umfragen für die bevorstehenden Parlamentswahlen zeigen, dass Ihre Partei eine Schlüsselrolle spielt. Was passiert, wenn Ihre Partei geschlossen wird?

Zuallererst müssen wir sehen, wie die Gesellschaft auf die Schließung unserer Partei reagiert. Das Newroz-Fest war die stärkste Reaktion auf die Pläne zur Schließung der Partei. Wir hatten eine der prächtigsten Newroz-Feiern in der Geschichte. Millionen waren auf den Straßen und das Volk machte deutlich: „Wir sind hier.“ Die Regierung mag die HDP nur als ein Gebäude mit einem Schloss an der Tür sehen, aber die Partei ist eine Idee, die in der Türkei gärt und wächst, weil die Gesellschaft mit der Politik der Regierung nicht mehr zufrieden ist. Unsere Frauenräte sind mit dem Slogan „Nein zur Frauenarmut“ von Stadt zu Stadt gereist und überall, wo wir hinkamen, wurde deutlich, dass die Gesellschaft große Hoffnung in die HDP setzt. Daher würde die Schließung der HDP bedeuten, die Hoffnung der Gesellschaft anzugreifen.

Sind auf alle Eventualitäten vorbereitet“

Was werden Sie tun, wenn Ihre Partei geschlossen wird?

Wir sind auf alle möglichen Eventualitäten vorbereitet, aber wir werden die HDP nicht schließen lassen, egal was passiert. Wir setzen unseren Kampf für die HDP allen Angriffen zum Trotz fort. Wenn die Zeit kommt, dann werden wir dies mit der Bevölkerung diskutieren und entsprechende Schritte gehen.

Neben der kurdischen politischen Bewegung gibt es auch andere Komponenten innerhalb der HDP. Wie gehen diese mit dem drohenden Parteiverbot um?

Unsere Partei spricht ein größeres Publikum an, als es scheint, denn viele Menschen treten für sie ein. Wir haben ein Modell vorgelegt, das es in der türkischen Politik nicht gab. Alle Komponenten der HDP betrachten die Angriffe auf unsere Partei auch als einen Angriff auf die türkische Demokratie. Unsere Wählerinnen und Wähler sind bereits Teil dieses Kampfes, aber auch die Politik, die für Demokratie und Freiheiten eintritt, jedoch nicht Teil unserer Partei ist, steht uns zur Seite.

Uns geht es nicht um Wahlkampf, sondern um einen permanenten Kampf“

Ihre Partei spricht immer wieder vom dritten Weg. In welchem Stadium befinden sich Ihre Bemühungen in dieser Hinsicht?

Mit dem dritten Weg meinen wir nicht ein Bündnis gegen zwei Wahlallianzen (die der CHP und die der AKP). In diesem Land gibt es eine Partei, die auf einer hundert Jahre alten Staatsmentalität aufgebaut ist, und abgesehen davon gibt es einen weiteren politischen Pol, der die Gesellschaft in den letzten 20 Jahren mit ihrer Politik in den Abgrund gezogen hat. Angesichts dessen betonen wir die Notwendigkeit eines ganz anderen Weges. Eigentlich gehen wir sogar davon aus, dass dieser Weg nicht nur für dieses Land, sondern für die ganze Welt notwendig ist. Wenn wir die Entwicklungen im Nahen Osten betrachten, können wir sehen, was sich in Rojava entwickelt hat. Wir versuchen zu vermitteln, dass es noch einen anderen Weg gibt, der auf demokratischen Grundlagen, ökologischen Kriterien und Geschlechterbefreiung basiert. Es gibt diejenigen, die dies manchmal als „dritte Koalition“ betrachten, aber wir bieten ein breiteres Modell als Alternative an. Wir sprechen hier nicht von einer dritten Koalition. Wir sprechen über ein Projekt, in dem es nicht nur um einen Wahlkampf, sondern um einen permanenten Kampf geht.