Kurdische Bürgermeisterinnen als Terroristinnen verurteilt

Mit Nilüfer Elik Yılmaz und Gülistan Öncü sind erneut zwei abgesetzte Bürgermeisterinnen kurdischer Kommunen zu langen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Beide erhielten mehr als sechs Jahre Haft wegen vermeintlicher PKK-Mitgliedschaft.

Mit Nilüfer Elik Yılmaz und Gülistan Öncü sind erneut zwei abgesetzte Bürgermeisterinnen kurdischer Kommunen zu langen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Ein Strafgericht in Mêrdîn (tr. Mardin) verhängte am Donnerstag in Abwesenheit der beiden HDP-Politikerinnen jeweils sechs Jahre und drei Monate Haft. Der Vorwurf: Mitgliedschaft in einer „terroristischen“ Organisation. Gemeint ist das Graswurzelbündnis „Demokratischer Gesellschaftskongress“, das - obwohl in der Türkei vollkommen legal - von Gerichten als „PKK/KCK-Struktur“ behandelt und kriminalisiert wird.

Yılmaz und Öncü hatten im März 2019 die Kommunalwahl mit deutlicher Mehrheit gewonnen und waren in die Rathäuser von Qoser (Kızıltepe) und Stewrê (Savur) eingezogen. Knapp ein halbes Jahr später wurden sie vom türkischen Innenministerium wegen „Unterstützung des Terrorismus” ihrer Ämter enthoben und durch einen Zwangsverwalter ersetzt. Kurz darauf folgte schon die Inhaftierung der 61 und 48 Jahre alten Politikerinnen. Sowohl Yılmaz als auch Öncü verbrachten rund anderthalb Jahre in Untersuchungshaft. Erst im April 2021 wurden sie gegen behördliche Meldeauflagen entlassen.

Kafkaesk und bestenfalls realitätsfern

„Die Anschuldigungen gegen diese ehemaligen Stadtoberhäupter beruhen nicht auf objektiven Tatsachen, sondern auf bloßen Behauptungen im Zusammenhang mit der Stellung der Mandantinnen als Bürgermeisterinnen der HDP”, erklärte Azad Yıldırım, Verteidiger von Yılmaz, in seiner Schlussrede. Die gesamte Anklageschrift sei vage formuliert und offensichtlich darauf ausgelegt, je nach Prozessverlauf unterschiedlich zugespitzt zu werden. „Unterlagen, die als Beweise verwendet wurden, um die behauptete Terror-Connection zu untermauern, entpuppten sich als völlig harmlose Notizen. Darüber hinaus wurden alle Beweise widerlegt. Nicht umsonst hatten beide Angeklagten die Anschuldigungen gegen sich als kafkaesk und bestenfalls realitätsfern bezeichnet.”

Absurditäten dienen als Beweise

Bei den vermeintlichen Beweisen geht es neben der Teilnahme an Wahlkampfveranstaltungen und Pressekonferenzen, die selbst von der Polizei als legal bewertet wurden, unter anderem um einen Eintrag im Telefonbuch der ehemaligen HDP-Abgeordneten Gülser Yıldırım. Die seit 2016 inhaftierte Politikerin hätte Nilüfer Elik Yılmaz dort als „Sprecherin des Frauenrats” hinterlegt, hieß es. „Wieso dies von der Staatsanwaltschaft in einen ‚eindeutigen Beweis‘ für Verbindungen zur KCK (dem Dachverband der kurdischen Bewegung, dem auch die PKK angehört) umgewidmet worden ist, konnte die Anklage nicht erklären. Offensichtlich wollte man die Mandantin im Gefängnis sehen und hat sich zu diesem Zweck in den Archiven der Justiz umgeschaut“, betonte Yıldırım. Im Fall von Öncü dient nach Angaben ihres Verteidigers Ferhat Ibrahimoğlu ein Projekt zum Auf- und Ausbau von Kooperativen in ihrem Wahlbezirk Stewrê als Nachweis für die angebliche KCK-Verbindung.

Politisches Verfahren

„Wir haben es hier mit einer politisch motivierten Anklage zu tun“, fasste der Jurist zusammen. Hauptsächlich seien Aussagen vermeintlicher Belastungszeugen, die anonym gehalten wurden – in einem Fall hatte sogar die Polizei eingeräumt, dass die Äußerungen inszeniert waren – als Beweise in die Anklageschrift eingeflossen. Sollte das Gericht der Forderung der Anklage dennoch nachkommen und Nilüfer Elik Yılmaz sowie Gülistan Öncü verurteilen, statt beide wie gefordert freizusprechen, würde es nicht nur die Regeln und Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit mit Füßen treten. Es würde unter Beweis stellen, dass die Justiz der Türkei der Exekutive unterworfen ist und es im Grunde nur darum gehe, „Feinde der Regierung“ aus dem politischen Leben zu verbannen, sagte Ibrahimoğlu. „Mit anderen Worten haben die Aussagen in der Hauptverhandlung und auch die Einlassungen – wenn überhaupt – nur eine untergeordnete Rolle. Das Urteil steht bereits fest. Die Fassade glänzt und spiegelt nur das, was wir sehen sollen.”

Urteil noch nicht rechtskräftig

Das Gericht zeigte sich unbeeindruckt von den Schlussreden und ordnete die Fortsetzung der Meldeauflagen und des Ausreiseverbots an. Die Verteidigung von Yılmaz und Öncü protestierte lautstark nach Verkündung des Urteils und kündigten Berufung an. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Putsch gegen die HDP

Bei der Kommunalwahl im März 2019 hatte die HDP  in 65 Kommunen mit großem Abstand gewonnen. Die türkische Regierung ließ in 48 der insgesamt 65 HDP-Kommunen die gewählten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister absetzen und durch staatliche Zwangsverwalter ersetzen. In sechs Kommunen konnten die Gewählten ihr Amt gar nicht erst antreten, weil der Wahlausschuss ihnen die Anerkennung verweigerte. An ihrer Stelle wurden die bei der Wahl unterlegenen AKP-Kandidaten ins Bürgermeisteramt gehievt. Dutzende Gewählte landeten wie die nun verurteilten Politikerinnen unter Terrorverdacht im Gefängnis. Heute werden nur noch sechs Rathäuser von der HDP regiert. Gegen die Partei ist zudem ein Verbotsverfahren anhängig. In der Anklageschrift wird gefordert, 451 Verantwortliche und führende Mitglieder der HDP für einen Zeitraum von fünf Jahren von der organisierten politischen Tätigkeit oder der Mitgliedschaft in politischen Parteien auszuschließen. Eine Entscheidung wird noch im Vorfeld der für den 14. Mai angesetzten Präsidentschafts- und Parlamentswahl erwartet.